Mentalität als Kategorie

Es gibt kaum einen kategorialen Begriff, dem so oft Unschärfe vorgeworfen wurde, wie dem der Mentalität, kaum eine Richtung innerhalb der Geschichtswissenschaft, deren Füße als derart tönern angesehen wurden, wie jene der Mentalitätsgeschichte, aber auch kaum eine, die so häufig diskutiert und deren Produkte sich so gut verkauften, wie eben jene Bücher, die sich mit der Geschichte der wie auch immer definierten kollektiven Bewusstseinszustände befassten.

Das Interesse der Historiker und Historikerinnen an kollektiven Bewusstseinsphänomenen unterscheidet sich heute deutlich von dem der frühen Annales-Historiker. Stand zunächst noch die Historisierung jener Überlegenheit im Mittelpunkt, die besonders in der französischen Aufklärung als Rationalismus thematisiert wurde, so ist heute offensichtlich, dass die fremde Alltagsnormalität stärker im Blickpunkt steht. Nicht mehr die Verbindung des Eigenen mit dem Alten durch historische Entwicklung bestimmt die historischen Konstruktionen, sondern der Blick auf das gänzlich Andere, das Fremde, wie es eben in Ausdrücken wie das ‚fremde’ oder das ‚andere Mittelalter’ zum Ausdruck kommt. Statt in der Historisierung eingeholte Identität steht nun die Differenz im Mittelpunkt. Der Mentalitätsgeschichte geht es um die differierenden Wahrnehmungsgewohnheiten, die als weltorientierend angesehen werden. Wirklichkeit wird primär als eine mentale Wirklichkeit gesehen, deren zentraler Faktor nicht benennbare Ideen sind, sondern halb- oder unbewusste mentale Strukturen. Diese bedingen ihrerseits Wahrnehmung, Sprache und Kommunikation. In einer historischen Analyse bilden sie daher den kategorialen Ausgangspunkt einer Argumentationskette.

Die Mentalitätsgeschichte hatte mit zwei Problemen zu kämpfen: zum einen, dass sich niemals letztlich nachweisen ließ, dass eine kollektive Mentalität tatsächlich existiert und nicht nur ein heuristisches Mittel der Wissenschaft ist. Zum anderen, dass das angesprochene Fremde in einer Wissenschaftssprache formuliert werden muss, die dem Beschriebenen letztlich fremd blieb. Aus diesen beiden Faktoren resultierte eine theoretische Unzulänglichkeit, die letztlich mit dazu führte, dass in den Diskussionen um eine neue Kulturgeschichte eine Verlagerung vom Bewusstsein zu den Praktiken als wirklichkeitsstiftende Phänomene vorgenommen wurde.

Zu ihrer einflussreichsten Zeit, die bis in die 1980er Jahre dauerte, galt Mentalitätsgeschichte als mehr denn als bloße neue Teildisziplin. Sie formulierte historische Wirklichkeit als im Wesentlichen von kollektiven teil- oder unbewussten Strukturen bestimmt. Die Art und Weise, wie Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Gegenstand wahrnehmen, hängt dann von der Grundstruktur ihrer bewusstseinsmäßigen Disposition ab. Eine solche Auffassung muss nicht, kann aber soweit gehen, die Realität der Außenwelt zu leugnen. Wie auch immer hier entschieden wird, ist diese Außenwelt uns aber nicht zugänglich, sondern immer bereits dem Zwang unterstellt, die Vielfalt der Außenwelt in eine menschliche Welt zu verwandeln.

Die Differenzen der verschiedenen Positionen zur Mentalitätsgeschichte als theoretischer Position liegen in der Formulierung des kollektiven Bewusstseins und der Wandlungsdeterminanten, denen dieses unterliegt. Im Gegensatz zu den meisten philosophischen Positionen einer Bewusstseinstheorie, die nach anthropologischen Konstanten in der Menschheitsgeschichte suchen, gehen historische Ansätze von der grundsätzlichen Wandelbarkeit der Mentalitäten aus. Sie leugnen damit eine einheitliche, inhaltlich gefüllte mentale Grundstruktur des Menschen, wenn man von dem Zwang absieht, Wirklichkeit nur in der Form wahrnehmen zu können, dass sie als durch die Mentalität vorinterpretiert erfahren wird.

In der Mentalitätsgeschichte sucht man den Ausgangspunkt des Argumentationsaufbaus in den mentalen Dispositionen, die als grundlegend bestimmend für menschliche Verhaltensweisen angenommen werden. Das Verhalten wiederum bestimmt den Bereich der Gegenstände und Objekte, die materielle Welt. Unschwer erkennbar verbirgt sich hinter der Mentalitätsgeschichte ein letztlich idealistisches Weltbild. Hierin sind die Dinge für uns Menschen nicht primär in ihrer Gegenständlichkeit und Körperhaftigkeit bestimmt, sondern in der Art und Weise, wie sie uns erscheinen. Daraus resultierten besonders in den 1970er und 1980er Jahren breite Diskussionen zwischen Vertretern der Mentalitätsgeschichte und jenen einer materialistisch formulierten Sozialgeschichte um die letztgültigen Kausalfaktoren historischer Entwicklung. Einig waren sich beide Richtungen in der hohen Bedeutung, die sie kollektiven Faktoren zur Erklärung der Geschichte beimaßen. Indem Mentalitätsgeschichte aber wesentlich dazu beitrug, einen einseitigen Strukturdeterminismus zu überwinden, gehört sie zu den zentralen Entwicklungsfäden, die zur neuen Kulturgeschichte hinführten.

Im Hinblick auf die Schwerpunktsetzung in der Definition des Begriffs Mentalität lassen sich zwei Spielarten der Mentalitätsgeschichte unterscheiden: zum einen die Auffassung von Mentalität als kollektivpsychische Disposition, zum anderen Mentalität als verhaltensleitende kollektive Einstellung.

Stefan Haas


Literatur