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Mentalitäten als verhaltensleitende kollektive Einstellungen
Eine Mentalitätsgeschichte, die Mentalität als kollektivpsychische Disposition versteht, tut sich mit Erklärungen für historischen Wandel schwer. Einfacher fällt die Bewältigung dieser argumentativen Aufgabe einer zweiten Variante. Wenn der Blick sich stärker auf das Verhalten richtet, so kann leichter von einem Überschuss in jedem Handeln gesprochen werden, der über das ursprüngliche Ziel hinausweist. Beispielsweise kann ein Verhalten, das systemstabilisierend wirken soll, in einer bestimmten Konstellation systemdestabilisierend wirken.
Schwieriger als bei allen anderen Geschichtstheorien ist eine klare logische Distinktion der unterschiedlichen mentalitätshistorischen Ansätze. Meist werden die hier behandelten beiden Varianten in eins gesetzt, obwohl sie klare logische Differenzen aufweisen. Im Fall der kollektivpsychischen Disposition wird eine kollektive Psyche angenommen, was häufig auch Kritik herausgefordert hat, insofern in unserer Alltagswelt immer nur unsere jeweils eigene Psyche erfahrbar ist. Grenzerfahrungen unter Einfluss von Drogen oder bei massenpsychologisch wirksamen Veranstaltungen sind in ihrem ontischen Status umstritten. Insofern kann eine Mentalitätsgeschichte, die den Begriff des Verhaltens in den Mittelpunkt stellt, einige Unklarheiten beseitigen.
Ähnlich wie die erste Form wird auch hier von einer kollektiven, epochalen Struktur gesprochen, deren Wirksamkeit sich aber primär in der Verhaltenssteuerung zeigt. Verhalten wird hier aus kollektiven Einstellungen abgeleitet, die sich zu einer Mentalität verdichten. Volker Sellin hat unter Berufung auf Clifford Geertz betont, dass jedes Verhalten einen Sinn hat. Die Akteure verhalten sich in unmittelbarer Sinngewissheit, d.h. im kulturellen Zusammenhang bekommen Verhaltensweisen eine bestimmte Bedeutung (Sellin S. 576). Diese Bedeutung ergibt sich aus dem System, in dem die einzelnen Faktoren der Lebenswirklichkeit zueinander geordnet sind. Im Gegensatz zur stärker psychologistischen Variante kann diese damit deutlicher mit der Systemtheorie in Verbindung gebracht werden. Das Ziel dieser Form der Mentalitätsgeschichte ist eine historische Semantik des kollektiven Verhaltens. In Analogie zu Lautzeichen lassen sich auch Verhaltensformen als Symbole verstehen, die noch etwas anderes bedeuten, als was sie an sich selbst sind. Volker Sellin hat Mentalitätsgeschichte als „Geschichte der Bedeutungen von Verhalten im weitesten Verstand“ (Sellin S. 577) aufgefasst. In diesem Sinn fragt Mentalitätsgeschichte danach, was bestimmte Verhaltensweisen in einer Gesellschaft bedeuten. Dies ist den historischen Akteuren häufig selbst nicht bewusst: sie leben in einer von einer Mentalität geprägten Lebenswelt und ihnen fehlt die Distanz, von außen die Grundlagen ihres Verhaltens zu betrachten. Dem Historiker und der Historikerin kommt daher die Aufgabe zu, nicht nur historische Welten zu rekonstruieren, sondern deren innere Struktur und ihr Funktionieren aufzudecken.
Stefan Haas
Literatur siehe unter Mentalität
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