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Was ist Geschichte?
‚Geschichte’ ist ein doppeldeutiger Begriff. Er bezeichnet einerseits das in der Vergangenheit Geschehene, andererseits das Schreiben über dieses Geschehene, eine ‚Geschichte’, die von der Vergangenheit handelt. Diese Doppeldeutigkeit ist ein klassisches Thema der Auseinandersetzung um Geschichte und wird auch mit den lateinischen Begriffen res gestae für das, was sich ereignet hat oder geschehen ist, und als historia rerum gestarum, was die Wiedergabe oder die Analyse dieses Geschehens meint, bezeichnet. Sehr häufig führt bereits ein Verwischen beider Begriffsbedeutungen von ‚Geschichte’ zu Problemen. Was studiert man beispielsweise, wenn man ‚Geschichte’ als Studienfach belegt hat. Studiert man dann die Geschichte i.S. einer Aneignung vergangener Geschehnisse und Strukturen? Der klassisch humanistische Bildungsbegriff würde ein solches Vorgehen präferieren. Oder erlernt man die Verfahren und Methoden, mit denen man als Geschichtswissenschaftler bzw. -wissenschaftlerin diese vergangenen Geschehnisse und Strukturen wissenschaftlich thematisieren und analysieren kann?
Da der Begriff ‚Geschichte’ diese doppelte Bedeutung trägt, ist es nicht verwunderlich, dass auch der Begriff ‚Geschichtstheorie’ ambivalent verwendet wird. Geschichtstheorie kann die abstrakte und allgemeine Beschäftigung mit Fragen beider Formen von ‚Geschichte’ bezeichnen. Beschäftigt sie sich mit den allgemeinen Prinzipien der Geschichte als Vergangenheit, kann man dies als materiale Geschichtstheorie bezeichnen, insofern sie auf den ‚Inhalt’ dessen bezogen ist, was mit dem Begriff Geschichte bezeichnet wird. Beispielsweise wird hier die Frage gestellt, ob die Geschichte als historischer Entwicklungsprozess ein beständiger Fortschritt oder ein kontinuierlicher Rückschritt ist und ob die Geschichte insgesamt ein Ziel verfolgt.
Meint man mit ‚Geschichte’ die wissenschaftliche Disziplin, so untersucht die Geschichtstheorie die allgemeinen Bedingungen der Erkenntnis. Da dies die formale Seite der ‚Geschichte’ bezeichnet, kann man hier von der ‚formalen Geschichtstheorie’ sprechen. In diesem Fall stehen Fragen nach der Systematik der wissenschaftlichen Methodenlehre, der Rolle des Forschersubjekts oder die gesellschaftliche Bedeutung der historischen Wissenschaften im Zentrum des Interesses.
In der Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens lassen sich beide Seiten nicht exakt trennen. Weder gibt es eine Erkenntnis ohne Objekt, von dem sie handelt, noch ohne Subjekt, das die Strukturen der Anschauung bereitstellt. Dennoch lassen sich Forschungstraditionen und die Praxis des Arbeitens auch danach unterscheiden, ob sie als konstitutiven Faktor der Disziplin Geschichtswissenschaft die Geschichte als Vergangenheit oder die Geschichte als Erkenntnissystem ansehen. Derzeit wird diese Dichotomie als Differenz von erkenntnistheoretischem Realismus und erkenntnistheoretischem Konstruktivismus diskutiert.
Stefan Haas
Einführungen zur Geschichtstheorie:
Goertz, H.-J.: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Hamburg 1995
Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln, Weimar, Wien 1997.
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