Materiale Geschichtstheorie

Behandelt die formale Geschichtstheorie die allgemeinen Bestimmungsfaktoren des Erkenntnisprozesses der Geschichtswissenschaft(en), so arbeitet die materiale Geschichtstheorie die allgemeinen Prinzipien der Geschichte als historische Vergangenheit heraus. Ein Thema der materialen Geschichtstheorie ist das Erforschen von Gesetzmäßigkeiten, die sich in der Geschichte finden lassen. Entscheidend für diese Spielart der Geschichtstheorie ist, dass sie ihre Ergebnisse nicht als Konstrukte des Erkenntnissubjekts versteht, als heuristisches Mittel, um Erkenntnisse zu formulieren, sondern als in der Geschichte real existent. Eine solche Gesetzmäßigkeit ist ein immer wirkender Faktor, der nicht die Erklärungen strukturiert und die Generierung von Hypothesen erlaubt, sondern ist tatsächlich als wirkmächtiges Phänomen existent. Wenn beispielsweise die Klassenkämpfe als wirkmächtiger Faktor im Rahmen einer materialen Geschichtstheorie vorgestellt werden, wird davon ausgegangen, dass diese Klassenkämpfe nicht ein allgemeiner Begriff sind, der heterogene und historisch durchaus disparate Phänomene für uns Historiker und Historikerinnen zusammenfasst, sondern dass Klassenkämpfe als ein wirkmächtiges Prinzip tatsächlich existieren – und nicht nur ein Erklärungsmodell sind.

Neben den Gesetzmäßigkeiten fragt die materiale Geschichtstheorie auch nach einem Ursprung der Geschichte, von dem aus die historische Entwicklung ihren Anfang nahm. Die biblische Betrachtung der Geschichte als eines zeitlichen Ablaufs von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht ist eine materiale Geschichtstheorie in diesem Sinn. Aber auch die Auffassung vom Zivilisationsprozess, wie Norbert Elias sie formulierte, oder Modernisierungstheorien, in denen der Verlauf der Industrialisierung und Demokratisierung vom 18. zum 20. Jahrhundert formuliert wird, sind solche Geschichtstheorien, insofern sie auf einem abstrakten Niveau Aussagen über allgemeine, real existierende historische Entwicklungen machen wollen, und nicht nur als Erklärungsmodell fungieren. (Angemerkt sei aber, dass es auch Modernisierungstheorien gibt, die sich als heuristisches Modell der historischen Entwicklung verstehen)

Geschichtstheorien in diesem Sinn treffen Aussagen über die historische Wirklichkeit, die wahr oder falsch sein wollen. Sie abstrahieren vom Quellenmaterial und formulieren Aussagen über die kausale Verbindung einzelner historischer Daten, die nicht in den historischen Quellen selbst enthalten sind oder nur angedeutet werden.

Als materiale Geschichtstheorie lassen sich solche theoretische Sätze bezeichnen, die Aussagen über das tatsächliche Geschehen, über die Materialität der Geschichte treffen. Je abstrakter solcher Formulierungen sind, desto schwieriger ist es, sie nachzuweisen. Daher stehen viele, an der wissenschaftlichen Positivität, also dem tatsächlichen Sagbaren orientierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen skeptisch oder ablehnend der Möglichkeit gegenüber, eine materiale Geschichtstheorie zu entwickeln. Sie halten diese für Spekulation, verweisen sie in das Reich der Metaphysik oder der (spekulativen) Geschichtsphilosophie.

Derzeit wird die materiale Geschichtstheorie intensiv etwa im Kontext des Posthistoire, eines vermeintlichen Endes der Geschichte in der postkommunistischen Wirklichkeit einer globalisierten Welt diskutiert. In den empirischen Wissenschaften selbst hat sie ein nur geringes Standing. Den meisten Aussagen, die nach materialer Geschichtstheorie klingen (Bsp. „Alle historische Wirklichkeit wird primär von kulturellen Faktoren bedingt“), wird ein heuristischer Status zugeschrieben, kein ontologischer.

Stefan Haas