Gruppe mit gemeinsamen Erkenntnisinteresse – Erkenntnistheoretischer Kollektivismus - Ideologiekritik

Soziale Gruppen für Erkenntnis verantwortlich zu machen, ist eher eine Angelegenheit sozialkritischer Wissenschaftstheorie. Wer sich um einen positiv-produktiven Aufbau von Wissenschaftlichkeit bemüht, versucht meistens einen Weg zu finden, der einen Argumentationsweg zu erstellen erlaubt, der alle Menschen integriert. Kritiker versuchen dann dagegen zu argumentieren, indem sie herausarbeiten, dass der angestrebte Universalismus doch nur den Machtanspruch einer relativ kleinen Gruppe kaschiert. Hochphase dieses Ansatzes, den man als Ideologiekritik bezeichnen kann, sind die 1960er und 70er Jahre. Vornehmlich linke Wissenschaftstheoretiker thematisierten gruppenspezifische Erkenntnisinteressen und kritisierten diese. Auch ein großer Teil des frühen feministischen Diskurses gehört in diese Richtung, insofern sie das Erkenntnissubjekt als männlich entlarvten und auf eine Erweiterung des Begriffes drängten (vgl. Kategorie gender). Ab und zu werden diese Ansätze auch nicht kritisch, sondern positiv gewendet. Sehen wir mal von dem Unsinn ab, dass nur „gereifte“ oder „erfahrene“ Wissenschaftler Erkenntnis formulieren können, was in der Alltagspraxis zwar häufig vorkommt, sich aber erkenntnistheoretisch überhaupt nicht legitimieren lässt, dann funktionieren solche Ansätze in der Regel über die Legitimierung einer Gruppe als „Minderheit“. So wird im feministischen Diskurs teilweise das Frausein als Voraussetzung zur Erkenntnis spezifischer Sachverhalte formuliert oder ethnische Minderheiten formulieren im interkulturellen Diskurs solche Ansprüche gegenüber dem hegemonialen Diskurs des abendländischen Rationalismus. Ins Esoterische oder semireligiöse gleitet dieser Typ der Erkenntnistheorie, der hier als erkenntnistheoretischer Kollektivismus bezeichnet wird, ab, wenn er eine spezifische Erleuchtung als Voraussetzung für das Erkennen formuliert und Erkenntnis nur jenen Gruppen vorbehält, die im Besitz dieser Erleuchtung sind.

Stefan Haas