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Am Ende bleibt also der Historismus eine Theorie, die ihren eigenen immanenten Widerspruch mit sich herum trägt. Er will alles historisch betrachten und bleibt doch an einer überzeitlichen Konstante, einer spezifischen menschlichen Phantasiebegabung hängen. Darüber hinaus hat die Kritik immer wieder den Relativismus verurteilt, der, zu Ende gedacht, jedes historische Unrecht weil historisch gegeben, hinnehmen muss. Als nach dem Ersten Weltkrieg Menschen wieder nach festen Werten suchten, begann auch eine umfassende Kritik am Historismus (Troeltsch, Heussi).
Neben dieser philosophischen Kritik am Relativismus des Historismus gab es von Seiten der Historiker Kritik besonders an der thematischen Engführung auf politische Geschichte. Dies führte zu Diskussionen um die Bedeutung von Außen- und Innenpolitik für historische Entwicklungen, die weniger erkenntnistheoretisch als politisch motiviert waren. Bis in die 1960er Jahre ist es dem Historismus gelungen, Alternativen zu bekämpfen und die vorherrschende Richtung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft zu bleiben. Auch die Kulturgeschichte, der sich in den 1890er Jahren eine Fülle von Forschern anschloss, wurde in ihrer Durchsetzung behindert.
In der pragmatisch ausgerichteten alltäglichen Praxis arbeiten Historiker bis heute mit dem historistischen Verstehensmodell, meist ohne sich über ihre Erkenntnistheorie Rechenschaft zu geben. Daher war man in Deutschland auch länger auf eine einseitige politische Geschichte der großen Männer eingeschworen, als beispielsweise in Frankreich, wo sich die strukturalistische Annales-Schule bereits in den 1950er Jahren durchgesetzt hatte. Selbst die Behauptung, man müsste auch die Innenpolitik berücksichtigen (Kontroversen um die Forschungen von Fritz Fischer zur Schuld am Ersten Weltkrieg), sorgte für Tumulte. Gerhard Ritter beantwortete noch in den 1950er Jahren die Frage, welche Kompetenzen der Historiker haben müsste, mit dem Hinweis, dass er, da er nur die Politik betrachte, diese aber dem Menschen sozusagen natürlich zugehörig sei, keine besonderen Fähigkeiten haben müsste. In einer Zeit, die von wissenschaftlicher Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Forschungsfelder geprägt war (wie die 50er Jahre), kamen solche Naivitäten genau jenen Recht, die die Geisteswissenschaften schon immer für unwissenschaftlich gehalten haben. Die noch heute fortdauernde Geringschätzung der Geisteswissenschaften, die eigentlich eine Geringschätzung der historistisch verfahrenden Geisteswissenschaften ist, resultiert auch aus der mangelnden Kraft der wissenschaftstheoretischen Basis des Historismus und seiner fehlenden Bereitschaft, Gegenargumenten durch eigene Weiterentwicklung zu begegnen.
Die Autoren dieser Enzyklopädie halten ein solches Verfahren in der alltäglichen Forschungspraxis für machbar, aber nicht unbedingt für wissenschaftlich. Die Hermeneutik des Historismus ebenso wie seine auf Politikgeschichte und große Persönlichkeiten aufbauende Geschichtsbetrachtung ist ein in sich schlüssiges Modell, Wissenschaft zu betreiben. Aber es ist in den letzten einhundert Jahren eine Fülle von Kritiken und Alternativen entwickelt worden. Ein Neohistorismus müsste diese argumentativ überwinden können - und nicht naiv an alten Ansätzen festhalten.
Stefan Haas
Literatur
Scholtz (1989), Gunter: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 71, S. 463-486.
Scholtz (1996), Gunter (Hg.): Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion, Akademie: Berlin.
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