Der Historismus: Die Doppeldeutigkeit des Begriffs

Der Begriff des Historismus hat die Theoriediskussion der letzten Jahrzehnte häufig mehr vernebelt denn gelichtet. In seinen vielfältigen, meist ungenau definierten, politisch instrumentalisierten Verwendungsweisen ist er zu einem Popanz geworden, ein universelles Feindbild oder ein unkritisierbarer Heroe, er gilt als antiaufklärerisch oder gerade als Fortsetzung der Aufklärung, er ist politisch konservativ aber auch wieder liberal und an seiner Zustimmung oder Ablehnung schieden sich die politischen wie theoretischen Strömungen der Geschichtswissenschaft der 1960 und 70er Jahre. Aber auch heute noch gilt vielen der Historismus als Begriff für alles traditionell Altmodische oder umgekehrt für die unhintergehbare Bibel des Historikers. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion, die sich einer oberflächlichen Polemik zu enthalten versucht, kann man zwei Begriffsvarianten unterscheiden: eine erste bestimmt Historismus als eine relativ genau umgrenzbare Epoche in der Ideengeschichte, die im 19. Jahrhundert angesiedelt wird. Eine zweite sieht im Historismus oder Historizismus eine philosophische Grundposition, die von der Geschichtlichkeit aller Phänomene ausgeht und keine überzeitlichen Konstanten kennt. Beide Begriffsvarianten sind von dem zu unterscheiden, was in anderen Disziplinen als Historismus bezeichnet wird. Zwar hat der Historismus, wie ihn die Kunst- und Architekturgeschichte als Stilepoche des 19. Jahrhunderts kennt, historische Affinitäten zum erst genannten Historismus, ist aber im disziplinären Kontext anders situiert als in der Geschichtswissenschaft. In dieser bezeichnet er eine zentrale Epoche der eigenen Wissenschaftsgeschichte und/oder eine allgemeine Position, die in den Augen vieler Historiker und Historikerinnen immer noch die Basis des geschichtswissenschaftlichen Arbeitens bildet.

Stefan Haas

Literaturauswahl:

Klassiker einer historistischen Geschichtstheorie sind:

die Arbeiten von Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen, Sybel, Treitschke,

Dilthey lieferte die wohl beste theoretische Formulierung des historistischen Erkenntnismodells und deutete zugleich Wege an, darüber hinauszugehen:

Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte, Erster Band (Zweiter Band nie erschienen) (Gesammelte Schriften Bd. 1), Stuttgart/Göttingen 5. Aufl. 1962 u.ö. Erstausgabe 1883.

Was man heute mit Dilthey in einer moderneren Lesart machen kann, zeigt eindrucksvoll:

Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek 1991.

Weitere Klassiker der historistischen Theoriebildung sind

Erich Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Bonn 1948, Erstausgabe 1926.

Hans Freyer: Theorie des objektiven Geistes, 1922.

Klassische Kritiken:

Heussi, Karl: Die Krisis des Historismus,Tübingen,1932. (Aa 545)

Troeltsch, Ernst: Die Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften, Bd. 3), Aalen 1961, EA 1922 (Aa 457,3)-

Neuere Forschungen zur Geschichte des Historismus:

Aretin, Karl Otmar Frhr. V./Gerhard A. Ritter (Hg.): Historismus und moderne Geschichtswissenschaft, Europa zwischen Revolution und Restauration 1797 - 1815/3. Dt.-Sowjet. Historikertreffen in d. Bundesrepublik Deutschland, München, 13. -18. März 1978, Stuttgart 1987.

Blanke, Horst Walther (Hg.): Transformation des Historismus. Wissenschaftsorganisation und Bildungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Interpretationen und Dokumente (Wissen und Kritik 4), Waltrop 1994.

Müller, Dorothea: Bunte Würfel der Macht. Ein Überblick über die Geschichte und Bedeutung des Mosaiks in Deutschland zur Zeit des Historismus,Frankfurt/M. u.a. 1995.

Rüsen, Jörn: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt/M. 1993.


Literatur:

Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Erstausgabe 1949, seitdem öfters als Taschenbuch.

Löwith wollte dem Marxismus seiner Zeit seine theologischen Ursprünge vorhalten. Trotz dieser zeitbezogenen Intention sind seine Analysen der Geschichtstheologie noch heute grundlegend

Jacques Le Goff: La naissance du purgatoire, Paris 1981 (EA). Dt. EA: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, München 1990.