Idee und Ideengeschichte

Eine Idee ist eine mentale Vorstellung, die wir uns von der allgemeinen Verfassung eines Dings oder Phänomens machen. In einigen philosophischen Richtungen ist die Idee der Maßstab, an dem wir die Zuordnung von Begriffen zu Gegenständen orientieren. Wir haben eine allgemeine Idee, d. h. eine Vorstellung, von dem was ein Tisch ist, und wenn wir Gegenständen begegnen, nennen wir sie dann Tisch, wenn sie in etwa dieser Idee entsprechen – oder wir mokieren uns darüber, dass etwas als Tisch bezeichnet wird, was wir gar nicht einsehen, weil er unserer allgemeinen Idee von Tisch nicht entspricht. Insofern lässt sich Idee als Idealbild der allgemeinen Eigenschaften eines Phänomens bezeichnen. Der Begriff ist aber in der abendländischen Tradition auch mit viel weitreichenderer Bedeutung verwendet worden. Bei Platon beispielsweise ist die Idee die metaphysische Wesenheit eines Phänomens. Im Neuplatonismus ist die Idee eine Emanation des Weltprinzips. Für Platon sind die Ideen das eigentlich Wahre, wohingegen die Erscheinungen nur blasse Bilder sind, die von einer Idee in unserer Wirklichkeit realisiert werden. Im deutschen Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts ist der Begriff der Idee ebenfalls in das Zentrum der Wirklichkeitsbetrachtung gerückt. Kant definierte: „Eine Idee ist nichts anderes als ein Begriff von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht findet, zum Beispiel die Idee eines vollkommenen, nach Regeln der Gerechtigkeit regierten Staates. Erst muss unsere Idee nur richtig sein, dann ist sie bei allen Hindernissen, die ihrer Ausführung entgegenstehen, gar nicht unmöglich." Auch Hegel sah in den Ideen das eigentlich Wahre, und interpretierte Geschichte als zu sich selber kommen der allgemeinen Ideen.

Dieser lange Exkurs auf die Geschichte des Begriffs ist notwendig, um zu verstehen, in welcher Form er zu einer Kategorie der Geschichtsbetrachtung hat werden können. Wenn in einer Idee das eigentlich Wirkliche gesehen wird, und ihre verschiedenen Erscheinungsformen nur Varianten und Realisierungsformen darstellen, wenn Wirklichkeit also von Ideen bestimmt wird, dann muss eine Geschichtswissenschaft, die nach den eigentlichen Ursachen historischer Veränderungen fragt, nach der allgemeinen Form der Ideen fragen, die die Wirklichkeit bestimmt. Dabei ist es gleichgültig, ob eine Idee tatsächlich in einem bestimmten historischen Moment realisiert wird d. h. ob wir sie in den Quellen wieder finden. Da sie in einem ideellen Kosmos existiert, kann im Verlauf der Geschichte immer wieder auf sie zurückgegriffen werden. Beispielsweise lässt sich eine Geschichte der Freiheit schreiben, wobei nicht der Fokus darauf liegt, die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen und ihre Entwicklung im Sinne einer Begriffsgeschichte zu formulieren, sondern das allgemeine in der Idee Freiheit heraus zu arbeiten und zu untersuchen, in welcher Epoche der Weltgeschichte sich diese Idee hat in möglichst reiner Form realisieren können. Wilhelm von Humboldt, noch dem Deutschen Idealismus verhaftet, hat als Aufgabe der Geschichtsschreibung formuliert, die „Darstellung des Strebens der Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen“ (Humboldt, S. 35).

Die Ideengeschichte als kategoriale Denkform der Geschichtswissenschaft ist ein Derivat des Historismus. Sie ist eine der zentralen Möglichkeiten, Geschichte zu schreiben, im letzten Drittel des 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Sie ist insofern historistisch, als sie das Individualitätsaxiom übernimmt und jede Idee als eine Individualität betrachtet – also nicht als eingeordnet in ein strukturiertes System von Ideen. Auch adaptiert sie das methodische Verfahren des Historismus, d. h. sie verfährt mittels emphatisch hermeneutischer Verfahren. Der Historismus untersucht die Ursachen des Handelns von Individuen. Die Ideengeschichte ist ein Historismus, die diese Motivation des Handelns an große Ideen knüpft. Ihr bekanntester und theoretisch versiertester Vertreter war Friedrich Meinecke. Sie ist viel weniger als der politikhistorische Historismus geprägt von einer Ablehnung des deutschen Idealismus. Allerdings versteht sie sich auch als eine empirische Wissenschaft, die die spekulativ philosophischen Verfahren der deduktiven Philosophie ablehnt.

Eine modernere Variante der Ideengeschichte hat sich im angelsächsischen Raum entwickelt. In der amerikanischen Geschichtswissenschaft wird als intellectual history seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ein Forschungsfeld bezeichnet, das nicht, wie die spätere Mentalitätsgeschichte, vorbewusste oder unbewusste mentale Dispositionen untersucht, sondern reflektierte Argumentationskontexte. Die wichtige Figur in diesem Zusammenhang ist Perry Miller. Eine zweite Variante wird als history of ideas bezeichnet. Diese wurde als eigenständiges Forschungsprogramm von Arthur Oncken Lovejoy entwickelt. Er gründete 1940 das ‚Journal of the history of ideas’. Sein Konzept sah vor, dass die Geschichtswissenschaft nach den ewig gleichen Grundelementen in der Geschichte des menschlichen Denkens suchen sollte. Lovejoy bezeichnete diese als unit-ideas.

Heute wird der Begriff der Ideengeschichte kaum noch verwendet. Nach dem linguistic turn werden Ideen als Begriffe aufgefasst oder als diskursive Elemente. Ihre Analyse vollzieht sich weniger in der Erforschung der Individualität einzelner Ideen, denn in der Analyse der Funktionen einzelner diskursiver Elemente im Gesamtkontext medialer Wirklichkeitsrepräsentation oder -konstruktion.

Stefan Haas

Literatur

Wilhelm von Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, Leipzig 1919.