Geohistorie nach Fernand Braudel

Mit seinem Hauptwerk La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II. (1949) hat der französische Annales-Historiker Fernand Braudel der Kategorie des Raumes einen völlig neuen Stellenwert zugewiesen. Gesellschaften sind in diesem Konzept vor allem dadurch geprägt, wie sie in ihrer Geschichte mit oder gegen die jeweiligen Umstände ihres Lebensraums gehandelt haben. In den drei Bänden von La Méditerranée stellt er dies in Form eines Dreistufenmodells dar, wobei jeder Band einer Modellstufe entspricht und jede Stufe sich von der anderen durch ihre zeitliche Dauer unterscheidet. So werden im ersten Band die Bedingungen eines Lebensraums am Beispiel der Mittelmeerregion mit ihren für sie charakteristischen Halbinseln, Bergen und Küstenverläufen beschrieben. Insofern sich dieses Gebiet von seinen Ausformungen her kaum verändert hat, ordnet Braudel ihm das Zeitmaß der longue durée, der langen Dauer zu, eine Stufe, auf der die Dinge beinahe stillzustehen scheinen und eine Entwicklung nur sehr langsam vor sich geht. Der zweite Band ist der Gesellschaftsentwicklung und Wirtschaftstätigkeit gewidmet. Diese im Verhältnis zur Dauer des Raumes schneller verfließende Zeit gehorcht den Abfolgen der conjonctures (Zyklen). Der dritte Band beschäftigt sich mit den politischen Ereignissen während der Herrschaft des spanischen Königs Philipp II. (1556-1598). Es sind die außergewöhnlichen Begebenheiten und wechselnden Tagesgeschehnisse, die lokal begrenzt, nur von kurzer Dauer sind und von Braudel in ihrer Ereignishaftigkeit événements genannt werden. Gegen die Ausschließlichkeit einer Geschichtsschreibung, die ihre Aufgabe darin sah, Geschichte von Persönlichkeiten her zu schreiben und Staatsgrenzen festzulegen, hat Braudel ein Konzept entworfen, mit dem der Raum weniger in seiner staatlichen Verfügbarkeit als in seiner Wirkung auf Mensch und Gesellschaft Berücksichtigung findet. Als Geohistoire ist daher eine Art der Darstellung zu begreifen, die nach Braudel jene traditionelle historische Geographie hinter sich lässt, „die fast ausschließlich auf die Untersuchung von Staatsgrenzen und von administrativen Einheiten gerichtet war“, und statt dessen den Raum „mit dem, was er trägt, was er hervorbringt, was er den Menschen erleichtert und wo er ihre Pläne durchkreuzt“ in den Blick nimmt (1994, S. 233–234). Die Starrheit des Dreistufenmodells wurde vor allem von Alain Corbin kritisiert.

Thorsten Feldbusch

Literatur

Braudel, Fernand: Geschichte und Sozialwissenschaft. Die longue durée, in: Marc Bloch, Fernand Braudel, Lucien Febvre u. a.: Schrift und Materie der Geschichte: Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hrsg. v. Claudia Honegger, Frankfurt a. M. 1977, S. 47 – 85.

- : Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt a. M. 1990 (La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 1949).

- : Geohistoire und geographischer Determinismus, in: Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, hrsg. v. Matthias Middell u. Steffen Sammler, Leipzig 1994, S. 233 – 246.

-,- /Aymard, Maurice: Die Welt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, hrsg. v. Fernand Braudel, Frankfurt a. M. 1990 (La Méditerranée. L’espace et l’histoire, Les hommes et l’héritage, Paris 1985/86).

Iggers, Georg C.: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 1993.

Jöckel, Sabine: „Nouvelle histoire“ und Literaturwissenschaft, 2 Bde., Rheinfelden 1984.

Osterhammel, Jürgen: Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistoire und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 374–397.