Quellen

Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse formulieren ein spezifisches Verhältnis zwischen Erkenntnissubjekt und –objekt. Naturwissenschaften untersuchen ihr jeweiliges Forschungsobjekt in einer Laborsituation, in der sie das Objekt weitgehend von anderen isolieren und eine wiederholbare experimentelle Versuchsanordnung aufbauen, in der sich ein zuvor hypothetisch angenommenes Resultat bestätigen soll. Für historische Wissenschaften stellt sich die Untersuchung des Objekts vergleichsweise komplexer dar. Aufgrund der Individualität der meisten Untersuchungsobjekte lassen sich diese nicht wiederholt in Versuchsanordnungen aufbauen und da sie in der Regel eine eindeutige Verortung in Raum und Zeit haben, sind sie in der je eigenen Gegenwart nicht präsent oder nur noch in ihren Nach- und Folgewirkungen greifbar. Objekte historischer Untersuchungen wie Ereignisse und Strukturen führen eine virtuelle Existenz in Vorstellungen und Erinnerungen, nicht aber eine präsentische. Ein Forschungsvorhaben, das sich auf einen Teilaspekt der Französischen Revolution richtet, kann diesen Aspekt nicht in der je eigenen Gegenwart in einer Laborsituation isolieren, der Erfahrung zugänglich machen und empirisch erforschen. Um dennoch Erkenntnisse über Geschichte zu generieren bedarf es spezifischer Mittel, um diese Differenz zu überwinden. Diese Mittel sind die Quellen.

Der Begriff der Quelle hat gerade im Deutschen eine Konnotation, die im heutigen, von einem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus geprägten Wissenschaftsverständnis, irreführend ist. Er suggeriert, Antworten auf die gestellten Fragen würden aus ihnen hervorsprudeln und man bräuchte diese nur abzuschöpfen. Tatsächlich verfuhren und verfahren noch heute viele Forscher und Forscherinnen nach diesem Prinzip: sie suchen Quellen wie beispielsweise Akten in Archiven, lesen diese und geben sie in ihren Publikationen wieder. Deskriptive Narrationen von Quellen sind aber keine Erkenntnisse. Quellen sprechen nicht aus sich selbst heraus, geben keine Antworten auf Fragen nach dem Warum, nach den Ursachen und Gründen für historische Phänomene, die in einem Forschungsvorhaben untersucht werden. Bestenfalls geben sie die Ursachen wieder, die die jeweiligen Zeitgenossen gesehen und in Dokumenten niedergelegt haben. Quellen selbst sprechen nicht über die Vergangenheit, kein Ohr auf eine Akte in einem Archiv gelegt vernimmt Antworten.

Vielmehr bedarf es zweier Arbeitsschritte: eines Transformationsprozesses und einer Interpretation. In einem ersten müssen die Quellen in Materialien verwandelt werden, d.h. sie müssen mithilfe der Methoden soweit transformiert werden, dass sie in einem zweiten Schritt interpretationsfähig im Hinblick auf die leitende Fragestellung sind. Erst diese Umwandlung der rohen Quellen in interpretationsfähige Materialien erlaubt, einen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen. Dies geschieht, indem aus den vielen möglichen Lesarten einer Quelle jene konstituiert und angewendet wird, die der in der Konstitutionsphase eines Projekts erarbeiteten leitenden Fragestellung entspricht. Die Quelle wird kanalisiert und damit aufschlüsselbar für jene Methoden gemacht, die man gewählt hat. Häufig bedarf es dazu einer Analyse der Quellen, beispielsweise müssen sie für quantifizierende Verfahren zählbar gemacht werden. Man könnte für eine quantifizierend verfahrende Diskursanalyse jene Diskurselemente (bestimmte Begriffe oder Redwendungen) aus einer Akte extrahieren, die mittels der statistischen Methode aufgenommen werden sollen.

Nach diesem Schritt der Transformation von Quellen in Material bedarf es der Interpretation, die in der Anwendung des theoretischen Rasters, das in der Konstitutionsphase des Forschungsvorhabens entwickelt wurde, auf die Materialien besteht.

Wichtig ist, dass die spezifische Lesart der Quelle auf einer Entscheidung basiert, die im Forschungsprozess getroffen werden muss. Sie muss stringent und nachvollziehbar entwickelt und begründet werden, weil es (fast) immer mehrere Lesarten einer Quelle gibt.

Stefan Haas