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Theoretische Grundbegriffe
Wissenschaftliches Arbeiten in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften ist eine Arbeit mit und an Begriffen. Begriffe sind die Werkzeuge, mit denen Wirklichkeit aufgeschlüsselt und im Forschungsverfahren konstituiert wird. Je schärfer diese Begriffe definiert sind, je transparenter und schlüssiger sie von Gegenbegriffen und Begriffsalternativen abgegrenzt sind, umso erfolgversprechender und genauer wird das Ergebnis.
Die gegenwärtige Situation der Wissenschaften ist von Pluralität, Ambivalenz und Heterogenität in der Anlage von Forschungsvorhaben gekennzeichnet. Für jede Arbeit muss daher selbst das Netz an Grundbegriffen gestrickt werden, in das man die weiteren Arbeitsschritte wie beispielsweise die Quellenanalyse einhängt. Die Frage, welche Begriffe als Grundbegriffe Verwendung finden, muss im Einzelfall entschieden werden.
Grundbegriffe sind die leitenden Begriffe der Konstitution von (historischer oder aktueller) Wirklichkeit im einzelnen Forschungsvorhaben.
Es gehört zu den wichtigen Fähigkeiten eines Forschers/einer Forscherin, Gewichtungen in der Hierarchie von Begrifflichkeiten im eigenen Forschungskontext vorzunehmen. Will ein Vorhaben beispielsweise die Gesellschaft der Weimarer Republik untersuchen, muss der Begriff der Gesellschaft im Vorfeld definiert werden, denn es gibt unterschiedliche Formen, diesen aufzufassen. Vereinfacht gesprochen bedeutet dies, dass es immer mehr als einen möglichen Weg gibt, immer mehr als eine Variante, einen Grundbegriff zu definieren. Herstellen der Transparenz der eigenen Argumentation für die Scientific Community ist daher einer der Gründe, warum Grundbegriffe im Vorfeld definiert werden müssen, die genannte begriffliche Schärfe ein anderer. Je besser die Definition ist, umso stringenter werden die Forschungsergebnisse, je spannender die Definition ist, umso ausgefallener und unerwarteter werden diese aber auch.
Gleichgültig ob der Grundbegriff/die Grundbegriffe Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft, Handlung, Praktik, Ritual, Zeichen, Symbol, Nation, Politik, Staat, Mentalität (es gibt nur virtuell unendliche viele Grundbegriffe, in der Forschungspraxis reduziert sich die Zahl auf eine durchaus überschaubare Anzahl, die aber historisch variabel ist) heißt/heißen, um einen Begriff hinreichend zu definieren, bedarf es jeweils der Auseinandersetzung mit aktuellen theoretischen Diskussionen zu diesem Begriff. Um beispielsweise den Kulturbegriff zu definieren etwa für eine Arbeit, in der man die Lebenswelt des Bürgertums im 19. Jahrhundert untersucht, die man dann als „Kultur“, als spezifisch „bürgerliche Kultur“ beschreibt - muss man sich mit aktueller Kulturtheorie beschäftigen. Vielleicht findet man auch einen älteren Begriff von Kultur um bei diesem Beispiel zu bleiben -, der besser geeignet ist, das anvisierte Ziel des Forschungsvorhabens zu erreichen. Dann muss man sich aber dennoch mit aktuellen Debatten beschäftigen, denn diese stellen eine Weiterentwicklung gegenüber älteren Auffassungen dar, haben etwa die inneren Widersprüche oder Engführungen klassischer Begriffe herausgestellt und neue Lösungen gesucht. Man ist nicht gezwungen, die Begriffsdefinition zu verwenden, die gerade erst jüngst publiziert wurde, aber man muss eine kritische und reflexive Auseinandersetzung mit der Entwicklung theoretischer Grundbegriffe führen. Denn die Definition der Grundbegriffe der eigenen Arbeit ist kein Akt reiner Willkür, sondern muss bestimmten Kriterien genügen:
1. Die Definition muss in sich schlüssig und argumentativ ausführbar sein (Forderung nach Schlüssigkeit und Genauigkeit);
2. sie muss Möglichkeiten eröffnen, dem Untersuchungsgegenstand nicht nur Offensichtliches abzutrotzen, sondern Perspektiven in den Hintergrund des Phänomens eröffnen mithin sie muss ‚weichen’ Faktoren wie spannend, neugierig machend usw. entsprechen (Forderung nach Relevanz und Tiefenanalyse);
3. sie muss an die gegenwärtige Theoriediskussion angebunden sein, d.h. man muss eruieren, welche Begriffsdefinitionen aktuell diskutiert werden. Man muss sich nicht einer dieser Definitionen anschließen und die anderen verwerfen. Jede Arbeit muss ihre Grundbegriffe selbst entwickeln, was auch in einer Synthese mehrerer bestehender Ansätze geschehen kann. Beispielsweise kann für den Gesellschaftsbegriff die systemtheoretische wie die konstruktivistische Variante synthetisiert werden, wenn dabei nicht die Forderung nach Schlüssigkeit verletzt wird (Forderung nach Vernetzung und theoretischer Reflexion);
4. die gewählte Definition muss auf das Forschungsfeld anwendbar sein. Es muss die Annahme bestehen, dass mittels der gewählten Definitionen in Verbindung mit dem zu untersuchenden Quellenmaterial das Vorhaben erfolgreich durchführbar ist (Forderung nach Durchführbarkeit);
5. der Begriff muss in seinen Grenzen diskutierbar sein, d.h. es muss angebbar sein, was der Begriff zu leisten vermag, aber auch, was nicht (Forderung nach selbstkritischer Reflexion).
Vermeiden sollte man folgende, immer wieder anzutreffende Kardinalfehler, da sie der oben herausgestellten Aufgabe, die theoretische Grundbegriffe für ein Forschungsdesign zu leisten haben, unterminieren:
1. Grundbegriffe sollten nicht naiv, d.h. ohne intensive und umsichtige Definitionsarbeit verwendet werden.
2. Die Definition des Grundbegriffs sollte nicht nur einfach beschrieben, sondern es sollte eine theoretische Verortung im Forschungsstand und damit eine argumentative Herleitung vorgenommen werden.
Stefan Haas
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