Das Modell der ‚Disziplinären Matrix’

Hatte sich Kuhn in seinem ersten Buch auf die Frage konzentriert, wie sich ein epochaler Wandel in der Wissenschaftsgeschichte vollzieht, so war er später mehr daran interessiert, die von ihm als Normalwissenschaft beschriebenen Phasen zu untersuchen. Wichtig wurde nun auch die Einsicht, dass gleichzeitig mehrere Forschungsansätze existieren und konkurrieren können. Ein Gedanke, der in dem Buch „Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen“ noch keine Rolle spielt, da er hier noch von einer Homogenität der Forschungspraxis in Phasen zwischen den Paradigmenwechseln ausgegangen war.

In der Phase der Normalwissenschaft, mithin jenen Zeiten, die zwischen zwei revolutionären Paradigmenwechseln liegen, herrscht unter den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ein Konsens über Fragen, wie man Probleme löst. Kuhn nennt diese Phase auch 'puzzle solving', weil sich Forscher und Forscherinnen in der Regel mit Fragen beschäftigen, deren Beantwortung kleine Bausteine zum Gesamtbild hinzufügen. Die Art und Weise wie man vorgeht, wird von den herrschenden Paradigma gesteuert. Indem man sich meist bereits während der Ausbildung mit diesem beschäftigt, erlernt man, wie man sich einer Frage nähert und Lösungen entwickelt. Solange es keine Probleme gibt, die man lösen möchte, wie sie aber mit dem herrschenden Paradigma nicht lösen lassen, werden auch die Regeln nicht hinterfragt. Das Lernen des Lösens von Rätseln erfolgt also darüber, dass wir lernen, zwischen dem Problem, was in der paradigmatischen Studien gelöst worden ist, und unserem eigenen kleinen Forschungsfeld, Ähnlichkeiten zu sehen. Diese Ähnlichkeiten sind es, wie es uns erlauben, die Verfahren anzuwenden, die im Paradigma erfolgreich angewandt worden sind. Diese Ähnlichkeiten sind aber nicht von Natur aus in den Phänomenen vorhanden, sondern sie sind die Folge eines spezifischen Blicks auf die Phänomene. Von diesen werden jene Eigenschaften besonders wahrgenommen, die mit dem eingeübten Blick korrespondieren. Insofern kann man sagen, dass diese Ähnlichkeiten konstruiert werden. Dem Paradigma entspricht eine spezifische Theorie über das Funktionieren von Wirklichkeit. Diese Theorie wird durch das kontinuierliche Forschen erweitert, modifiziert, vielleicht sogar verändert. Aber erst wenn Probleme überhaupt nicht mehr gelöst werden können, wird eine revolutionäre Veränderung dieser Theorie notwendig.

In der Weiterentwicklung seines Ansatzes stellte Kuhn fest, dass es also nicht allein das Vorbild einer paradigmatischen Arbeit ist, das eine lange Normalphase der Wissenschaftsentwicklung trägt. Seinen neuen Erklärungsansatz gruppierte er um den Begriff der Matrix. Dieser vieldeutige Begriff lässt sich für den Kontext, in dem Kuhn ihn verwendet, am sinnvollsten mit dem Begriff des Schemas konnotieren. Der amerikanische Wissenschaftstheoretiker stellte fest, dass in einem paradigmatischen Werk eine Struktur verborgen ist, die alle Elemente des wissenschaftlichen Forschens miteinander stringent verbindet. Diese bilden ein Schema, das auf weitere Forschungsvorhaben übertragen werden kann. Auch dieses Schema, diese ‚disziplinäre Matrix’ ist weiterentwickeltbar, solange nicht eine Krise seine Gültigkeit nachhaltig erschüttert. Diese Krisen werden durch ein Missverhältnis in der Möglichkeit, Probleme mithilfe der Matrix zu lösen, verursacht. Wobei ähnlich wie beim Paradigma gilt, dass die Matrix nicht nur Wirklichkeit zu erkennen ermöglicht, sondern auch diese konstituiert, indem sie bestimme Ausschnitte in den Blick kommen lässt und andere verdeckt. In diesem Zusammenhang hat Kuhn einen wichtigen Gedanken ausgesprochen, der später im postmodernen Diskurs eine entscheidende Rolle spielen wird: jenen der Inkommensurabilität. Wenn zwei Formen, Wissenschaft zu betreiben, nicht über eine gemeinsame Sprache vermittelbar sind, sind sie inkommensurabel, mithin auf keiner Ebene vergleichbar. Zwei sich in dieser Art widerstreitende Ansätze können keinen gemeinsamen Punkt finden, der es ihnen erlaubt, eine argumentative Auseinandersetzung zu führen, weil die Sprache, in der jeweils die Erkenntnisse formuliert werden, nicht ineinander übersetzbar sind. Der deutsche Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen hat das Modell der Disziplinären Matrix fruchtbar in die geschichtswissenschaftlichen Diskurse eingebracht.

Stefan Haas


Literatur:

Charpa, Ulrich: Philosophische Wissenschaftshistorie. Grundsatzfragen, Verlaufsmodelle (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie, Bd. 42), Braunschweig/Wiesbaden 1995.
Sehr guter, allgemein gehaltener Überblick über die verschiedenen Ansätze.

Diederich, Werner (Hg.), Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beiträge zur diachronen Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M. 1974.

Burrichter, Clemens: Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel, Stuttgart 1979.

Für die Geschichtswissenschaft hat besonders Jörn Rüsen den Begriff der disziplinären Matrix fruchtbar angewendet. U.a. in:
Rüsen, Jörn: Von der Aufklärung zum Historismus. Idealtypische Perspektiven eines Strukturwandels, in: Horst Walter Blanke, Jörn Rüsen (Hg), Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens (Historisch-Politische Diskurse 1), Paderborn [u.a.] 1984, S. 15-57.