Die vage Idee als Ausgangspunkt des Forschens I

Im Berufsalltag von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sei es an Universitäten, in Museen, in außeruniversitären Forschungsorganisationen oder in Bildungseinrichtungen stehen am Beginn der wissenschaftlichen Arbeit zwei mögliche Szenarien: man erhält das zu bearbeitende Forschungsfeld von einem Auftraggeber, um es allein oder im Team zu bearbeiten, oder man hat eine mehr oder weniger vage eigene Idee, was sich zu bearbeiten lohnen würde, und möchte diese entwickeln.

Ein Beispiel für die erste Situation könnte folgendermaßen aussehen: in einem historischen Museum soll eine Ausstellung zum Thema "Geschichte und Ästhetik der Werbung" erarbeitet werden. Dazu erhält man als einzelner Referent bzw. Referentin den Auftrag, sich mit dem Feld "Frühe Werbeplakate zwischen 1880 und 1914" auseinander zu setzen. Damit verfügt man bereits über einen relativ konkret formulierten Auftrag, der sich durch den Gesamtzusammenhang der geplanten Ausstellung und das Umfeld, in dem diese stattfindet – beispielsweise ein Firmenjubiläum oder ein Jahrestag, noch genauer konkretisieren lässt.

Da Wissenschaft ein kreativer Arbeitsbereich ist, gibt es in jedem beruflichen Tätigkeitsfeld die Möglichkeit, eigene Ideen zu realisieren. Auch während der Ausbildung an den Universitäten können und/oder sollen eigene Vorstellungen entwickelt werden und in die Generierung von Seminar- oder Abschlussarbeiten münden. Am Anfang hat man nur eine ungefähre Vorstellung, was spannend sein könnte, was einen selbst interessiert, was andere interessieren könnte oder was sich lohnen würde, zu untersuchen. Um erfolgreich eine solche vage Idee zu entwickeln, die sich nicht nur zu einer operatonalisierbaren leitenden Fragestellung weiter entwickeln lässt, sondern auch Aussicht auf eine erfolgreiche Rezeption durch die Scientific Community, das Publikum oder das Prüferkollegium hat, sollte man einige Verfahrensschritte einhalten.

Woher vage Ideen kommen, mithin welche Schritte am Beginn einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit stehen, ist nahezu unerforscht. Zwei Situationen lassen sich unterscheiden:

§ man macht eine Erfahrung in der Lebenswelt, in der man lebt: beispielsweise erlebt man einen Wahlkampf, die Auseinandersetzung zwischen einem Liebespaar oder kocht ein Abendessen. Aus solchen Erlebnissen und Erfahrungen kann das Gefühl erwachsen, dass es sinnvoll sein könnte, über die den Wahlkampf tragenden politischen Strategien, über die Entwicklung der modernen Beziehungsauffassung oder über die kulturelle Abhängigkeit der Ernährung nachzudenken. Vielleicht möchte man hinter die Oberfläche schauen und hält es für spannend, eine weitergehende Analyse, mithin eine wissenschaftliche Erforschung durchzuführen. Solche Erfahrungen können auch durch Lesen vermittelt werden, weil die Lektüre es erlaubt, eigene Erfahrungen und Auffassungen an anderen zu brechen, zu erweitern oder zu modifizieren. Aus Erfahrungen Forschungsarbeiten zu entwickeln hat meist etwas mit sich entwickelndem Interesse, mit einer positiven Neugier, auch mit einem Wundern und Verwundern, einem Erstaunen, oder häufig auch mit einer Sorge oder gar Bestürzung zu tun. Solche erfahrungsleitenden und –begleitenden Gefühle sind für den Beginn eines Forschungsvorhabens wichtig und sie können, häufig müssen sie das Engagement an einem Forschungsvorhaben begleiten, da sonst irgendwo unterwegs die Motivation verloren gehen könnte. Um aber erfolgreich umgesetzt zu werden, müssen sie mit Verfahren verbunden werden, die im wissenschaftlichen System akzeptiert werden. Diese Verfahren müssen bestimmten Kriterien genügen – und: sie haben den Vorteil, dass sie es erlauben, Antworten zu finden, die jenseits dessen liegen, was sich an der Oberfläche als vermeintliche Antwort auf die eigene Frage finden lässt.

§ Eine zweite, verbreitete Auffassung über die Frage, wie eine Ausgangsidee entsteht, läuft über den sogenannten ‚Forschungsstand’. Dies setzt voraus, dass man sich innerhalb der Forschung zu einem spezifischen Gebiet gut auskennt und bei der Beschäftigung mit dieser Forschung das Gefühl hat, dieser oder jener Aspekt sei noch unerforscht, sollte aber erforscht werden – oder eine erfahrenere Person hat ein solches Gefühl oder formuliert eine entsprechende Einschätzung, aber dann ist man wieder in der oben angesprochenen Situation, einen Auftrag zu erhalten. Warum gerade diese oder jene Person dieses oder jenes Gefühl hat, dass etwas zu erforschen lohnenswert wäre, ist sicherlich selbst einer Untersuchung Wert, aber es gibt bislang kaum Forschungen, die sich mit dieser Frage beschäftigen.

In der alltäglichen wissenschaftlichen Praxis wird nur selten über die Frage offen gesprochen, woher solche vagen Vorstellungen über untersuchenswerte Phänomene und Fragestellungen kommen. Allzu groß erscheint vielen die Gefahr, dass dies das Forschungsvorhaben mit subjektiven, irrationalen Elementen durchsetzt. Insofern es die Aufgabe jedes Wissenschaftlers und jeder Wissenschaftlerin ist, diese vage Idee letztlich in eine allgemeine Fragestellung zu transformieren, erübrigt sich meist in der Phase der Medialisierung und Veröffentlichung des Forschungsvorhabens eine entsprechend transparente Offenlegung der Ausgangsidee. Da vage Ideen zur Konstitution von Forschung eine nur untergeordnete Bedeutung zu haben scheinen und sich in der Intimität des Forscherindividuums verlieren, gibt es nur wenige wissenschaftspsychologische Forschung über die Frage, woher Ausgangsideen stammen und wie diese generiert werden. Entsprechend niedrig ist daher auch der Rationalisierungsgrad in der Beurteilung von Erfolgsaussichten von vagen Ausgangsideen – anders als bei den benennbaren leitenden Fragestellungen, die das Ergebnis des im Folgenden aufgezeigten Prozesses zur Rationalisierung einer vagen Idee bilden.

Werden vage Ausgangsideen dennoch offen gelegt, folgen sie meist einer von zwei Grundstrukturen, die jeweils beide den individuellen Ausgangspunkt an ein Forschungs- oder Gesellschaftskollektiv binden und den oben genannten analytischen Kriterien folgen: Meist wird auf (1) Erfahrungen rekurriert, die der Einzelne oder die Einzelne selbst in der Gegenwart gemacht hat, wobei diese Erfahrungen ins Allgemeine transformiert und als typische kollektive Erfahrung dargestellt werden, oder es wird (2) der Forschungsstand angeführt, in dessen Entwicklung sich eine bestimmte Lücke ergeben habe, die es durch die durchzuführende Arbeit zu füllen gelte.

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