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Die Turns der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften der 1990er Jahre
In den Geisteswissenschaften haben in den letzten beiden Jahrzehnten eine Fülle von Turns um die Vorherrschaft konkurriert. Das Vorbild ist der linguistic turn, ihm folgte der cultural turn Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre, gefolgt von dem visual bzw. iconic turn, dem body turn und jüngst dem communicative turn. Ob es sich jeweils um einen Turn im Sinn einer Kopernikanischen Wende handelt oder nur um eine bedeutende Akzentverschiebung in der Forschung, ist im einzelnen umstritten. Auch sind nicht innerhalb der jeweiligen Richtung, die einen Turn vertreten, alle so radikal, einen Turn im Sinn einer Kopernikanischen Wende zu formulieren. So entpuppt sich vieles, was als Turn verkauft wird, nur als Entdeckung eines modifizierten Gegenstandsbereiches der empirischen Wissenschaften, erhält aber durch diesen Begriff eine ungleich weitreichendere Bedeutung. Als Kopernikanische Wende sollte aber nur ein Wandel in der Wissenschaft bezeichnet werden, der die Grundlage und die Gesamtausrichtung einer Disziplin neu bestimmt.
Viele Ansätze bemühen sich tatsächlich um eine solche Neubegründung von Wissenschaft, was sich auch an der Verschiebung der Selbstbezeichnung ablesen lässt. Nannten sich die Nicht-Naturwissenschaften traditionellerweise Geisteswissenschaften, weil Geist als grundlegende Kategorie gedacht wurde, so dominierte in den 1970er Jahren die Selbstbeschreibung als Sozialwissenschaften, welche wiederum in den 1990er Jahren durch den cultural turn vom Begriff der Kulturwissenschaften als Sammelbezeichnung für alle klassisch Geisteswissenschaften genannten Disziplinen abgelöst wurde.
Jüngst entwickelt sich ein neuer Turn, der Kommunikation und Medien als kategoriale Grundbegriffe ausbaut und Elemente des cultural und des lingustic turns, der Kulturtheorie, der Diskurstheorie und der Differenztheorie verbindet. Letztlich geht es in all den ernst und radikal gemeinten Turns um die Frage nach dem Archimedischen Punkt, von dem aus das Ganze der Wissenschaft sich stringent erschließen lässt. Motivation dieses Anliegens ist es auch, die Kommunikationsfähigkeit zwischen den sich beständig ausdifferenzierenden Teildisziplinen und methodischen Richtungen zu verbessern.
Stefan Haas
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