Gesellschaft

Die grundlegende Tatsache, dass Menschen in Gesellschaft leben, ist vielfach zur Generierung von Kausalität in historischen Arbeiten herangezogen worden. Mit dieser Tatsache verbinden sich unterschiedliche Motivationen für menschliches Handeln, die sich in Beziehung setzen lassen zur Geschichte. Dass ein Mensch nicht alleine lebt, kann dazu führen, dass er sich mit anderen vergleicht, dass er Ähnlichkeiten oder Unterschiede feststellt. Diese können zum einen dazu führen, dass der einzelne den Drang entwickelt, sich mit anderen zusammenzuschließen, um der Angst der Isolation zu entgehen, dass er aber auch versucht, andere zu übertreffen. Motiviert wird dies durch den Wunsch, anders zu sein als die anderen, vielleicht gar ihnen überlegen zu sein und daher Macht oder Herrschaft auszuüben. Menschen handeln in sozialen Situationen nach solchen oder ähnlichen Motiven. Sie bilden Gruppen, um ihre Interessen gemeinsam erfolgversprechender durchzusetzen oder ihr überleben zu sichern. Solche Gemeinschaftsbildungen oder Institutionen stehen in kommunikativem oder kooperativem Austausch mit anderen oder sie konkurrieren um knappe Ressourcen, Einflussmöglichkeiten oder die Macht, zu bestimmen, was in einer Gesellschaft als Wirklichkeit konstituiert wird. Menschen wachsen in solche Gruppen und Institutionen hinein, übernehmen deren Ideale und Weisen, Wirklichkeiten zu organisieren.

In der Geschichtswissenschaft stehen solche sozialen Prozesse oder Motivationskomplexe häufig im Mittelpunkt der Frage nach den Ursachen historischer Ereignisse, Strukturen oder Prozesse. Mittels der Kategorie Gesellschaft auf historische Wirklichkeit zu schauen bedeutet, unterschiedliche Teilsegmente historischer Epochen als primär gesellschaftlich bedingt anzusehen. So wird ein Historiker oder eine Historikerin, die mittels der Kategorie Gesellschaft Kunst anschaut, zunächst danach fragen, in welchem sozialen Kontext die betrachteten Werke entstanden: wer war der Auftraggeber? Welchen sozialen Status hatten die Künstler? Welche ökonomischen Bedingungen spielen eine Rolle bei der Konstituierung ästhetischer Präferenzen zu einer bestimmten Zeit? Im Gegensatz dazu werden wissenschaftliche Arbeiten, die eine ästhetische Betrachtungsweise in den Mittelpunkt stellen, Kunstwerke als Ausdruck von Ideen, als gelungenen oder weniger gelungenen Komplex formaler Gestaltungselemente ansehen.

In den aktuellen geschichtswissenschaftlichen Diskursen ist das arrivierteste gesellschaftsgeschichtliche Modell jenes der Historischen Sozialwissenschaft. Aber bereits bevor diese in den 1960er und 70er Jahren entwickelt wurde, war in der internationalen Geschichtswissenschaft eine soziale Betrachtungsweise der Geschichte etabliert, auch wenn sie nur selten jene theoretische und konzeptionelle Geschlossenheit aufwies, wie die auch als Bielefelder Schule bezeichnete Richtung. Zu nennen sind hier besonders die ältere Historische Schule der Nationalökonomie, die ältere Kulturgeschichte sowie die New History in den USA.

Stefan Haas