Historische Anthropologie

Historische Anthropologie stellt insofern eine Weiterentwicklung der Alltagsgeschichte dar, als sie wie diese sich mit der historische Entwicklung menschlicher Grundbedingungen des Lebens beschäftigt. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört das Wohnen, die Ernährung, die Gemeinschaftsbildung sowie Sexualität, Krankheit und Tod. Der Begriff Anthropologie als die 'Lehre vom Menschen' verweist auf diese Konstituierung von Forschungsgegenständen. Das Adjektiv 'historisch' soll dabei nicht nur andeuten, dass die Disziplin im Rahmen der Geschichtswissenschaft angesiedelt ist, sondern dass die zu untersuchenden Grundbedingungen menschlicher Existenz selbst einer Geschichte unterworfen sind. Im Gegensatz zur Disziplin der Philosophischen Anthropologie, die dasjenige thematisiert, was den Menschen über die verschiedenen Zeiten und Kulturen hinweg als gemeinsame Basis desjenigen gegeben ist, was sie zu Menschen macht, geht die historische Anthropologie davon aus, dass sich diese Grundbedingungen selbst historisch entwickeln und grundlegend verändern können. In diesem Zusammenhang ist immer wieder der Begriff der Erfindung anzutreffen, meist in Kontexten, die zunächst irritierend wirken. So gibt es eine Erfindung der Kindheit, eine Erfindung des Todes oder eine Erfindung der Sexualität. Gemeint ist damit jeweils ein Kontext, der im Rahmen der Diskurstheorie anzusiedeln ist. Erfindung der Kindheit beispielsweise meint nicht, dass Menschen nicht immer als kleine Wesen auf die Welt kamen, gewachsen sind und sich körperlich verändert haben. Es meint, dass die spezifischen Eigenschaften, die wir in der Tradition der bürgerlichen Gesellschaft der Lebensphase Kindheit zuschreiben, nicht natürlich sind, sondern ihre historischen Entstehungsbedingungen haben, die sie zu einem zeitlich begrenzten Phänomen mit einem relativ genau datierbaren Anfang in der Geschichte und einem ebenso zu erwartenden Ende machen. Meist wird dabei die spezifische Form der diskursiven Thematisierung des Phänomens, in diesem Fall der Kindheit, erforscht. Historische Anthropologie untersucht jene Themenbereiche, die als genuin menschlich angesehen werden, historisiert diese aber und stellt jeweils die Frage, ob und inwieweit sich die Erscheinungsformen dieser grundlegenden Bedingungen entwickelt haben. Würde die Philosophischen Anthropologie beispielsweise annehmen, dass Vergemeinschaftung ein Phänomen ist, dass Menschen unabhängig von jeder Kultur oder Epoche gemeinsam ist, so würde die Historische Anthropologie radikaler fragen, ob nicht diese Aussage selbst das Resultat einer historischen Entwicklung ist, mittels der sich eine menschliche Gesellschaft selbst beschreibt und ihr soziales Leben organisiert.

Historische Anthropologie historisiert daher dasjenige, was im kulturwissenschaftlichen Diskurs auch als anthropologische Konstante bezeichnet wird. Als solche wird all dasjenige bezeichnet, was scheinbar jenseits der Geschichte konstantes Phänomen menschlicher Existenzweise ist. Den Gegensatz dazu bezeichnet man als Historisierung. Wenn wie im obigen Fall Kindheit nicht mehr als ein anthropologisch konstantes Phänomen angesehen wird, sondern als ein historisch gewordenes, spricht man von einer Historisierung der Kindheit.

Neben dieser radikalen Form der Historischen Anthropologie existiert eine weichere Variante, die ebenfalls unter diesem Begriff auftritt. Sie untersucht die unterschiedlichen historischen Erscheinungsformen, in denen Aspekte der genannten grundlegenden Bedingungen menschlicher Existenz auftreten. Die Historische Anthropologie verfährt sehr detailgenau und quellennah. Artikel, die dieser Richtung zuzuordnen sind, werden meist sehr detailliert betitelt. Allerdings darf man sich davon nicht täuschen lassen, denn die Interpretationsperspektive, die im Rahmen der Historischen Anthropologie eingenommen wird, ist jeweils eine sehr weitreichende. Insofern ist die Historischen Anthropologie sehr gut geeignet, vergleichende Verfahren zu verwenden, um die jeweilige kulturhistorische Spezifik desjenigen Einzelfalls herausarbeiten, der quellentechnisch untersucht worden ist.

Stefan Haas