Alltag als Lebenswelt

Eine der spannendsten und theoretisch am intensivsten diskutierten Definitionen des Begriffs Alltags sieht in ihm eine spezifische Form der Erfahrungseinstellung von handelnden Menschen. Diese Definition hat ihren Ursprung in der Phänomenologie, die eine der zwar außerhalb der Philosophie relativ unbekannte, dort aber eine der einflussreichsten Richtungen des 20. Jahrhunderts ist. Sie geht auf Edmund Husserl zurück, dessen Schüler Martin Heidegger war. Auch der Existenzialismus, der Poststrukturalismus und die postmoderne Philosophie haben ihre Denksysteme in der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie entwickelt. Die Grundlage der Husserlschen Philosophie ist die Überzeugung, dass es keine Außenwelt gibt, über die wir sinnvoll sprechen können, sondern nur Phänomene, die wir in er Art, wie sie uns erscheinen, d.h. wie wir sie wahrnehmen, analysieren und zur Grundlage einer wissenschaftlichen und philosophischen Forschung machen können.

Husserl hat als Begriff zur Bezeichnung des Alltags jenen der ‚Lebenswelt’ eingeführt. In der 1936 erschienenen Abhandlung ‚Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie’ versucht er, mittels einer historischen Analyse der Wissenschaftsentwicklung die Inkommensurabilität (natur-)wissenschaftlicher Forschung und alltäglicher Praxis nachzuweisen. Lebenswelt als Alltag ist bestimmte Einstellung zu den Wahrnehmungen, die wir von den uns umgebenden Phänomenen haben. Diese Einstellung bedingt, dass wir Phänomene auf spezifische Art und Weise wahrnehmen, interpretieren und auf andere Wahrnehmungen beziehen. Bei diesem ‚Aufeinander beziehen’ wird Sinn konstruiert, wird ein sinnhafter Aufbau des Ganzen der Erfahrungen angestrebt. Hatte Husserl diese Differenz in der Einstellung von lebensweltlicher Praxis und naturwissenschaftlicher Forschung noch verwendet, um die ‚Krise der Wissenschaften’, die in ihrem Verlust an lebensweltlicher Relevanz begründet ist, zu analysieren und in der transzendentalen Phänomenologie einen Weg der Überwindung dieser Krise zu entwickelt, so hat die an die Krisis-Abhandlung sich anschließende breite soziologische Rezeption das Element der Sinngenerierung weiterentwickelt. Besonders der in den USA lehrende Alfred Schütz wurde in den 1950er Jahren zu einem Vermittler der Ansätze Husserls, indem er diese mit dem Werk des deutschen Soziologen Max Weber verband, der auch für die Historische Sozialwissenschaft die entscheidende Orientierungsfigur geworden ist. Schütz hat nachhaltig die ihm folgende Generation geprägt und auch das Werk der Soziologen Thomas Luckmann und Peter L. Berger, deren Schrift „Die sinnhafte Konstruktion von Wirklichkeit“ die einflussreichste Arbeit aus dem Rahmen der ‚Phänomenologischen Soziologie’ geworden ist.

Im Blick der Soziologie wird die Husserlsche Lebenswelt als spezifische Einstellung zu den Phänomenen präfiguriert durch Sinnvorgaben, die während der Sozialisation erlernt und angeeignet werden. Dies geschieht im Wesentlichen durch die Aneignung von Sprache, in der sich gesellschaftlich bedeutende Sinnstrukturen verdichten. Das vorhandene Wissen und die gegebene Sozialstruktur konstituieren für den einzelnen Heranwachsenden eine Welt, in der sich so orientiert und in der er als Bezugspunkt dieser Sinnorientierung eine eigene Identität entwickelt. Dabei ist der immer in der Dichotomie von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung eingebunden. Eine wichtige Aufgabe ist dabei, die vorgefundene Welt in eine eigene Welt zu transformieren und so eine Identität auszubilden.

Im ersten Moment kann es verwirren, dass die Philosophie Husserls, dessen Ziel die Entwicklung eines modernen Letztbegründungsdenkens gewesen ist, derart konkrete soziologische Forschung etabliert hat. Es ist auch nicht zuletzt der Rezeption des Werks von Max Scheler und dessen Differenzierungen des Lebenswelt- und Alltagsbegriffs geschuldet, dass die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz eine sehr konkrete Wissenschaft des Alltags etabliert hat. Nach Schütz ist die Lebenswelt der umfassende Sinnhorizont aller Sinnreiche, wohingegen der Alltag stärker begrenzt ist auf spezifische Handlungssysteme.

Innerhalb der phänomenologischen Soziologie, deren Hochphase in den Zeitraum zwischen den 1950er und 1980er Jahren fällt, gibt es drei Schulen:

o Eine Gruppe ist stark an den Grundlagentheorien interessiert und geht auf die Schütz-Schüler Maurice Nathason und Richard Zaner zurück.

o Eine zweite orientiert sich an Harold Garfinkel, der bei Parsons promovierte aber auch Schüler von Schütz war, und die Ethnomethodologie entwickelte.

o Eine dritte Gruppe gruppiert sich um das grundlegende Werk von Berger und Luckmann, die sich auch um eine internationale Popularisierung der Arbeiten von Alfred Schütz verdienst gemacht haben.

Für die Alltagsgeschichte sind besonders die beiden zuletzt genannten Richtungen von Bedeutung gewesen.

Stefan Haas

Literatur

Husserl Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie’ Schütz- Arbeiten

Berger-Luckmann