Bedeutung und Nachwirken der Alltagsgeschichte

Bereits in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war die Diskussion um den Alltag als theoretische Kategorie historischer und systematischer Forschung verstummt. Die Debatten um eine Überwindung des Soziologismus wurden in den Geisteswissenschaften anhand der neuen Leitkategorie ‚Kultur’ diskutiert, die ein breiteres thematisches wie methodisches Spektrum binden konnte, als es der Begriff der Alltagsgeschichte oder die unglückliche Wortschöpfung der „Sozialgeschichte in der Erweiterung“ vermocht hatte.

Im Rückblick wies auch das politische und gesellschaftskritische Potential der Alltagsgeschichte kaum über die eigene Zeit hinaus und galt relativ rasch als überwunden. Neben einer dokumentarischen Alltagsgeschichte gab es eine geringe Zahl wertkonservativer alltagshistorischer Arbeiten, die in der Tradition des Volkskundlers Wilhelm Heinrich Riehl den Eigenwert vormoderner Lebensformen gegen die ‚Verformungen’ der Moderne herauszuarbeiten versuchten. Große Teile der Alltagsgeschichte waren aber linksliberal und ökologisch-sozialdemokratisch eingestellt und arbeiteten, indem sie gegen die Übermacht der Strukturen anschrieben, die noch von der Historischen Sozialwissenschaft in den Vordergrund gestellt worden waren, an der Vorstellung einer alternativen, ‚anderen’ Moderne, in der dem einzelnen Individuum Möglichkeiten des Widerstandes gegen strukturelle Entwicklung und der eigenen Sinnsetzung gegeben waren. Zwar wurde dieser Blick auf die „Bartwichserei“ gerade von Vertretern der Historischen Sozialwissenschaft als kleinlich abgetan, aber es war nicht zuletzt diese Erarbeitung von Möglichkeiten individueller Sinngenerierung, die in der Kulturgeschichte breit aufgenommen und fortgesetzt wurde und sich als äußerst fruchtbar für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Struktur entpuppte.

Mit dem Verlust an Bedeutung, die die traditionelle Links-Rechts-Einteilung in der Politik in den 1990er Jahren insgesamt in den Industrienationen erlebte, verlor auch diese politische Dichotomie, die noch in den späten 1980er Jahren einen Zusammenschluss der Alltagsgeschichte verhindert hatte, an Wirkmächtigkeit für die Konstituierung der Alltagsgeschichte. Der Gegenstandsbereich der Alltagsgeschichte ist mittlerweile breit akzeptiert und wird unter dem Begriff der „Historischen Anthropologie“ auch in institutionalisierter Form weiter erforscht. Die theoretischen Debatten haben sich in den 1990er Jahren um Begriffe wie Kultur, Erinnerung, Sinn, Körper oder Kommunikation gruppiert. Aber all diese Diskussionen wären nicht möglich gewesen, wenn der Diskurs der Alltagsgeschichte trotz seiner inneren Ambivalenz und Heterogenität nicht den Weg bereitet hätte, den Strukturalismus innerhalb der historischen Wissenschaften zu überwinden. Insofern haben diese Diskussionen auch in einer Theoriegeschichte ihren Ort, auch wenn die systematische Aufarbeitung ihrer Leistung noch aussteht.

Stefan Haas