Raum als Kategorie

Es scheint selbstverständlich zu sein, dass sich menschliches Leben ebenso wie in der Zeit immer im Raum abspielt. Dennoch haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Geisteswissenschaftler mit dem Raum relativ schwer getan, zumindest wenn es darum ging, in diesem mehr zu sehen als einen Gegenstand der Forschung, wie er als gebauter Raum beispielsweise in der Stadt- oder der Architekturgeschichte thematisiert wird. Raum als Kategorie aufzufassen müsste meinen, dass der Raum eine unhintergehbare Bedingung der Wirklichkeitskonstitution ist. Als solche taucht er bereits bei Immanuel Kant auf, der Raum und Zeit als Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Weltorientierung ansah. Nicht in dem Sinn, dass Zeit und Raum immer schon da sind, sondern dass wir Erfahrungen nur sinnvoll verarbeiten können, wenn wir sie auf Raum und Zeit beziehen. Die Dinge sind für uns dann immer in Zeit und Raum eingebunden, ob sie für sich selbst auch Zeit und Raum haben, ist dann eine ganz andere Frage, deren Beantwortung nahezu unmöglich, aber vielleicht für uns Menschen auch unwichtig ist.

Als Kategorie der geisteswissenschaftlichen Forschung wurde der Raum aber meist in einem eingeschränkten Sinn verwendet. Dies hängt auch mit seiner Geschichte zusammen. Besonders in den 1920er und 1930er Jahren wurde er zwar als ein weitreichender kategorialer Begriff verstanden, aber auch politisch instrumentalisiert. In der sogenannten Ost- bzw. Westforschung, die sich mit der Geschichte der an die damaligen deutschen Grenzen anschließenden Territorien beschäftigte, wurde eine Legitimationsgrundlage für die räumliche Expansionspolitik der Nationalsozialisten geschaffen. Auch die sogenannte „Kulturraumforschung“, die bis in die 1960er Jahren an westdeutschen Hochschulen etabliert war, war von solchen machtpolitischen Intentionen nicht frei. Aus dieser Geschichte resultiert die Skepsis, mit der viele heutige Historiker und Historikerinnen dem Versuch gegenüberstehen, Raum als einen forschungsleitenden Grundbegriff zu etablieren.

Nur wenigen Ansätzen ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, eine politisch korrekte Formulierung des Raums als Kategorie geisteswissenschaftlicher Forschung zu entwickeln. Die einflussreichsten Ansätze liegen in den Arbeiten einiger Vertreter der Annales-Schule. Auslöser war Braudels 1949 erschienenes Werk über die Welt des Mittelmeers. Das dort anvisierte Raumkonzept wurde aber von den folgenden Generationen der Annales-Schule, beispielsweise von Alain Corbin, scharf kritisiert. In jüngster Zeit sind im Kontext der Diskussionen um den Körper als Forschungsgegenstand und Kategorie zeitgemäße Formulierungen eines Raumkonzepts diskutiert worden. Diese Wiederentdeckung des Raums als leitende Kategorie der Kulturforschung wird als „spatial turn“ diskutiert. Durch die Digitalisierung unserer Lebenswelt beginnt sich unter dem Begriff der „Virtuellen Realität“ eine Neubestimmung des Raumbegriffs zu entwickeln, die von bisherigen klassisch physikalistischen Begriffsbestimmungen wegzuführen scheint.

Stefan Haas

Literatur

Osterhammel, Jürgen: Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistoire und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur, Jg. 43, 1998, Heft 3, S. 374–397.

Soja, Edward W.: Postmodern geographies. The reassertion of space in critical social theory, London 1989.

Todorova, Maria: Der Balkan als Analysekategorie. Grenzen, Raum, Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 470-92.

Gregory, Derek: Imaginierte Geographien, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 6 (1995), S. 366-425.

Schultz, Hans-Dietrich: Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 345-77.