Mentalität als kollektivpsychische Disposition

Der Ausgang der Argumentation in einem ersten idealtypischen Fall der Mentalitätsgeschichte ist ein Raum in einem kollektiven Bewusstsein, der strukturbildend für Wahrnehmungsprozesse ist. Dieser Raum stellt die Grundlagen bereit, in denen Wirklichkeit erst erscheinen kann. Der einzelne nimmt sich und seine Umwelt im Rahmen eines Rasters wahr, ordnet diese und belegt sie mit Sinn. Trotz aller individuellen Abweichungen und Variationsmöglichkeiten, besteht doch jeweils ein Rahmen, aus dem nur selten oder gar nicht ausgebrochen werden kann. Dieser Rahmen ist die Mentalität, eine kollektive psychische Disposition zur Ordnung der Welt. Mentalität in diesem Sinn determiniert die einzelnen Betrachtungsweisen nicht, es gibt immer noch genügend Spielraum für individuelle Unterschiede. Sie grenzt aber den Raum ein, der für individuelle Möglichkeiten bestand. Diese Auffassung wirft zwei Probleme auf: woher kommt diese Mentalität und wie wandelt sie sich?

Die erste Frage lässt sich logisch nicht beantworten, wenn Mentalität als Kategorie verstanden wird. Würde man diese auf andere Faktoren zurückführen können, läge keine Mentalitätsgeschichte als Grundlage aller Geschichtsbetrachtung vor. Tatsächlich sind viele empirische Studien zur Geschichte der Mentalität kategorial betrachtet sozial-, wirtschafts- oder psychohistorische Studien. Man wird Mentalitätsgeschichte als kategoriale Geschichtsbetrachtung daher an der Schlüssigkeit ihrer folgenden Argumentation sowie an ihrer empirischen Einsetzbarkeit bewerten müssen.

Ein zentraler Faktor einer solchen Auffassung ist jedenfalls der Hinweis, dass sich Wirklichkeit nur in den Grenzen einer solchen kollektiven Disposition erschließt. Dies erklärt einerseits epochale Übereinstimmungen in einzelnen Untersuchungsergebnissen, andererseits bindet es die folgenden Argumente aber auch relativ schlüssig aneinander. Akzeptiert man einmal Mentalität als Ausgangspunkt, so ist die Frage, ob die Menschen ihre Welt in Sprache, Bilder oder Gesten formulieren, obsolet geworden. Die jeweiligen kulturellen Äußerungsformen spiegeln jeweils einen Teilaspekt einer epochalen Disposition, Wirklichkeit zu ordnen, wieder. Im Gegensatz zu diskursanalytischen Betrachtungen wertet die Mentalitätsgeschichte die Eigenmächtigkeit von Sprache geringer. Sie muss dies tun, um eine Grundlegung bei mentalen kollektiven Dispositionen hinreichend behaupten zu können. Sie muss dazu nicht eine Steuerbarkeit von Sprache annehmen, also die Fähigkeit, Sprache als eindeutiges Medium anzunehmen, mit der ein Sinn problemfrei von einem Sender an einen Empfänger übertragen werden kann. Ihr wird Sprache vielmehr zum Spiegelbild der Mentalität, insofern sich in ihr, ohne dass es den Menschen hinlänglich bewusst werden muss, die Welt in ihrer jeweiligen durch die Mentalität konstruierten Form formuliert.

Kann in dieser Form eine das Bewusstsein betonende Mentalitätsgeschichte ihre Überlegenheit gegenüber anderen Sektoren der Geschichte relativ problemfrei behaupten, fällt ihr die Antwort auf den Wandel von Mentalitäten schon deutlich schwerer. Wie alle Geschichtsbetrachtungen, die lange Kontinuitäten betonen, fällt die Erklärung von Veränderung schwer. Dies Problem teilt die Mentalitätsgeschichte u.a. mit der Diskursanalyse. Mentalität wird meistens als ein Phänomen ‚langer Dauer’ interpretiert. Der Einfluss der Zeiteinteilungen von Fernand Braudel, der neben dem Ereignis, den Serien und den Konjunkturen von der „longue durée“ historischer Phänomene sprach, ist aller Mentalitätsgeschichte deutlich anzumerken.

Zwei logische Varianten stehen hier zur Verfügung. Man kann Veränderung eines Phänomens aus diesem Phänomen selbst heraus erklären, oder man kann externe Faktoren dafür verantwortlich machen. Die erste Variante ist immer die logisch schlüssigere, da sie den kategorialen Standpunkt nicht verlässt und keine dem betrachteten Phänomen übergeordnete Faktoren annehmen muss. Die zweite Variante würde Mentalitätsgeschichte als kategoriale Geschichtstheorie nicht schlüssig formulieren können. Am einfachsten fällt die erste Variante, wenn man dem Phänomen die Fähigkeit zuspricht, sich selbst willentlich verändern zu können. Dazu muss man aber meist einen selbstbewussten Willen annehmen, was bei der Mentalitätsgeschichte schwer fällt, will man nicht den Popanz einer hypostatisierten, d.h. unzulässigerweise personalisierten Betrachtung der Mentalität riskieren. Mentalitäten wie handelnde Personen zu behandeln, würde aber kaum überzeugen.

Es bleibt daher nur ein argumentativer Kniff übrig, den die meisten Geschichtstheorien integrieren, ohne ihn auszusprechen. Eine lineare Betrachtungsweise, in der die Kategorie eindimensional Wirklichkeit konstruiert oder beeinflusst, ohne dass diese Kreation wiederum Rückwirkungen hat, wird heute nicht mehr überzeugen. Spätestens mit der Systemtheorie ist die Vernetzung der einzelnen Elemente ein gängiges Theorem und so geht es in der Geschichtstheorie auch weniger um die Frage nach dem Urgrund von allem als nach dem argumentativen Ausgangspunkt einer logisch formulierten Geschichtstheorie. So enthält der Rahmen, den eine epochale Mentalität darstellt, immer auch Möglichkeiten, die über die aktuell realisierten Varianten hinausgehen. Werden diese dann einmal formuliert, geraten sie mit bestehenden Formen in Konflikt und es kommt zu sozialen Auseinandersetzungen um Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit verschiedener Wirklichkeitskonstruktionen. Dieser Konflikt wirkt wiederum auf den Rahmen zurück. Dabei kommt ein Überschuss zum Tragen, der ursprünglich nicht realisiert worden war. Dieser führt zur Sprengung des ursprünglichen Rahmens und erweitert diesen. Bei der Neukonstruktion einer Wirklichkeit, in der Menschen leben, entstehen dann geänderte Rahmenbedingungen und empirische Historiker und Historikerinnen können von einer neuen epochalen Mentalität sprechen. Anders funktioniert die Argumentation, wenn Mentalität im Sinn einer verhaltensleitenden kollektiven Einstellung gemeint ist.

Stefan Haas

Literatur siehe unter Mentalität