Das Erkenntnis- und Forschungsinteresse als Konkretisierung der eigenen Idee

Ein wichtiger früher Schritt, die eigene vage Idee weiter zu entwickeln, ist es, zu fragen, warum dies mir eigentlich interessant erscheint, was es ist, was mich eigentlich daran interessiert. Historikerinnen und Historiker interessieren sich häufig für ein bestimmtes historisches Phänomen oder eine bestimmte Epoche, Literaturwissenschaftlerinnen und ﷓wissenschaftler für einen bestimmten Autor/Autorin oder für ein einzelnes Werk, vielleicht für eine Gattung. Mit solchem Interesse ausgerüstet lassen sich bereits Konkretisierungen des Vorhabens vornehmen. Das bringt einen jedoch nur dahin, für all jene zu schreiben, die auch dieses Interesse teilen. Ist man dagegen in der Lage, zu reflektieren, was das eigene Interesse ausmacht, lassen sich weiterführende Fragen formulieren, die ein deutlich höheres Anschlusspotenzial aufweisen. Beispielsweise kann ich mich für die Werbung in der Wilhelminischen Epoche interessieren, weil mich irgendwie schon immer die Emailleschilder fasziniert haben. Ich könnte aber auch genauer versuchen, herauszubekommen, warum mich dies interessiert. Ich könnte feststellen, dass es das Visuelle an der Information zu einem Produkt ist, die Tatsache, dass ein Gegenstand nicht mehr nur mit Worten, sondern mit Bildern aus beispielsweise alltäglichen Konsumsituationen umschrieben wird. Von dort ausgehend kann ich das Problem weiterentwickeln bis zur Frage nach der Bedeutung, die ein Medium zur Konstitution einer bestimmten Kultur spielt, in diesem Fall, welche Bedeutung die Visualisierung in der Hochphase des Industriezeitalters für deren Gesellschaft und Kultur hat. In dieser Formulierung kann ich Anschluss auch herstellen an Forschungen, die die Bedeutung der Schrift für die Entwicklung der antiken griechischen Kultur und damit des gesamten Abendlandes herausgearbeitet haben. Das Netzwerk der potentiellen Anschlüsse an bestehende Forschungen und damit die Zahl und Qualität von Relevanzargumenten und konkreten Kommunikationsmöglichkeiten in der Scientific Community wächst.

Ob sich eine vage Idee mehr in Richtung psychologische, philosophische, gesellschaftliche oder andere Segmente bewegt, sagt selbst nichts über die Qualität der Forschung aus. Die Ausgestaltung ist letztlich dem Einzelnen überlassen und muss von diesem vor der Scientific Community verantwortet werden. Häufig aber wird diese von epochalen gesellschaftlichen und wissenschaftssoziologischen Trends, teilweise auch von Moden gesteuert. Beispielsweise waren während der 1960er und 70er Jahre gesellschaftliche Ausarbeitungen vager Ideen opportuner und hatten mehr Aussicht, realisiert und rezipiert zu werden, als andere, wohingegen gegenwärtig deutliche Schwerpunkte im kulturellen und kommunikativen Kontext zu verorten sind.

Eine breite Richtung innerhalb der Wissenschaftstheorie ist davon überzeugt, dass, gleichgültig in welche Richtung sich die weitere Entwicklung einer vagen Idee entwickelt, sie mit einem jeweils subjektiven Interesse des Forschenden verbunden ist, das eine Verortung in der eigenen persönlichen wie wissenschaftlichen Biografie und Sozialisation hat. Im Anschluss an Jürgen Habermas und Hans-Otto Apel könnte man diesen Aspekt als ‚Erkenntnisinteresse’ bezeichnen. Da dieser Begriff im wissenschaftstheoretischen Kontext eindeutig mit der Theorie von Habermas verbunden ist, kann man, um diese Konnotation zu vermeiden, auch von Forschungsinteresse sprechen. Das Interesse wird als wesentlicher Aspekt bei der Konstitution von Forschung angesehen. Da es die auf Neutralität und Objektivität orientierte Forschung mit subjektiven, im klassischen Jargon der 1960er und 70er Jahre als „ideologisch“ interpretierten Elementen untergräbt, haben Habermas und Apel darauf gedrungen, dass jede Forschung ihr Erkenntnisinteresse offen legt, um den Ansprüchen auf Transparenz, Selbstreflexion und Kritisierbarkeit zu entsprechen. Als die beiden Frankfurter Philosophen dies formulierten, galt Erkenntnisinteresse als wesentlich gesellschaftlicher Sachverhalt. Heute ist man angesichts des Wandels und der Ausdifferenzierung der postmodernen Gesellschaft nicht mehr davon überzeugt, dass soziale Determination als primäre und wichtigste Form der sogenannten ‚Ideologisierung’ von Forschung anzusehen ist. Die Sache aber, dass es subjekthafte Elemente in der Konstitution von Forschungsvorhaben gibt, ist aber weiterhin ein zentrales Thema, wird nur differenten Lösungen zugeführt. Da es nicht um den Ausweis persönlicher Motivationen und trivialpsychologischer Seelenspiegelung gehen kann, wird der Forderung nach dem Offenlegung des Erkenntnisinteresses heute meist in der Reflexion des methodischen Instrumentariums und des theoretischen Standorts nachgekommen.

Stefan Haas