Die Konkretisierung der vagen Idee und die Unterscheidung von Thema und Gegenstand

In einem ersten Schritt sollte die vage Idee konkretisiert werden. Dies sollte schnell geschehen, denn die folgende Arbeit wird noch jede Menge Zeit erfordern. Um eine Idee zu konkretisieren ist es hilfreich, etwas unsystematisch vorzugehen. Wenn die Idee sich aus dem Forschungsstand heraus entwickelt hat, ist es weniger problematisch, diese genauer zu formulieren, als wenn sie aus einer vagen alltäglichen Erfahrung entstammt. Man wird sich also unsystematisch Forschungsliteratur ansehen – aber mindestens genauso wichtig ist es, sich zu fragen, warum man sich überhaupt dafür interessiert hat: ‚Was steckt eigentlich hinter meinem Interesse?’

An diesem Punkt sollten wir zwischen Forschungsgegenstand und Forschungsthema unterscheiden. Ein Gegenstand ist dasjenige, was mir tatsächlich in Gestalt von Quellen gegenübersteht. In der Geschichtswissenschaft beispielsweise die Akten des Stadtarchivs Soest zu Ehegerichtsprozessen im frühen 19. Jahrhundert. Aber ist es wirklich die Geschichte der Eheprozesse in Soest im frühen 19. Jahrhundert, die mich interessieren? Und wen könnte dies auch noch interessieren? Einige Lokalhistoriker, die sich mit der Geschichte Soests im frühen 19. Jahrhundert auseinandersetzen, und einige Eheprozesshistoriker die sich auf das frühe 19. Jahrhundert spezialisiert haben?

Hier hilft es häufig weiter, sich selbst genau zuzuhören, denn sich zu fragen, warum man dies eigentlich spannend fand, führt häufig zu einer ersten Antwort, warum auch andere dies spannend finden könnten – denn da wir alle in dergleichen Welt leben und ähnliche Erfahrungen machen, sind auch unsere Probleme häufig ähnlicher als wir glauben (und leider nicht so individuell, wie wir gewöhnlich hoffen). Wenn es mithin auch subjektive Gründe für Interessendispositionen gibt, meist gibt es eine große Zahl weiterer Personen, die ähnliche Fragen stellen, weil sie in dieser Welt ähnliche Probleme sehen. Vielleicht habe ich mich für dieses Feld interessiert, weil ich in Soest geboren wurde und meine eigenen Vorfahren in den Akten vorkommen – gut, das ist ein Grund, aber keiner, für den irgendein Geldgeber meine Forschungen finanziert. Ich muss also eine andere Begründung suchen. Vielleicht war es aber gar nicht dieser Grund, vielleicht habe ich mich gefragt, wie am Beginn der bürgerlichen Epoche heterosexuelle Paare ihr Zusammenleben organisiert und bewältigt haben, weil ich sehe, dass es heute gar nicht so leicht ist, ein Leben lang zusammenzubleiben – zumindest legen dies Statistiken nahe und eine Reihe von Erfahrungen, die man in seinem Umfeld macht.

Aus dieser Erkenntnis über mein eigenes Interesse kann ich dann das Forschungsthema stricken: Wie organisieren heterosexuelle Paare unter bestimmten sozialen und kulturellen Umweltbedingungen ihr Zusammenleben? Mit einer Antwort auf diese Frage könnte ich deutlich mehr Menschen ansprechen. Viele meiner Mitmenschen beispielsweise, weil diese eine ähnliche Erfahrung über unsere eigene Gegenwart machen und das Problem ebenfalls sehen. Aber auch Forscher und Forscherinnen aus ganz anderen Kontexten. Sozialhistoriker des Mittelalters oder der Antike, die sich ebenfalls mit dem Thema Familie und soziale Beziehung beschäftigen. Mit Ethnologen, die das Thema in Amazonien oder bei den australischen Aborigines erforschen usw. Meine Forschungen werden mit einer solchen Formulierung anschlussfähiger. D.h. ich kann meine Thema an mehr bestehende Forschungen anbinden, finde mehr Gesprächspartner, von denen ich etwas lernen, denen ich aber auch etwas mitteilen kann – und am Ende mehr Interessierte, die mit meiner Forschung etwas anfangen können und sich daher für mich und meine Arbeit interessieren. Ich kann, was sehr wichtig ist, eine höhere Relevanz für meine Erkenntnisleistung in Anspruch nehmen.

Stefan Haas