Die Dialektik des Forschens: Der Dialog zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt – Das virtuelle Subjekt

Vom Moment der vagen Idee oder des Auftrags an setzt sich ein höchst komplexer, komponentenreicher Prozess in Gang. Wissenschaftliche Erkenntnis besteht aus einem Dialog zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt. Das Erkenntnissubjekt, jenes denkende und handelnde Subjekt, das die Erkenntnisleistung vollbringt, ist der einzelne Wissenschaftler oder die einzelne Wissenschaftlerin. Es gibt breite Diskussionen darüber, wie groß der individuelle Anteil an der Erkenntnisarbeit letztlich ist und ob sich Wissenschaft nicht gerade dadurch auszeichnet, dass das Individuum weitgehend zurückgedrängt und durch intersubjektive Verfahren und Methoden ersetzt wird.

Für die konkrete Forschungsarbeit helfen solche Debatten wenig, denn auch wenn wir beim Forschen uns als Teil einer Scientific Community verstehen und einen Diskurs mit all seinen Vorurteilen und Vorannahmen sprechen, der sich in Jahrhunderten entwickelt hat, müssen wir die konkrete Arbeit doch letztlich selbst tun. Aber es ist wichtig zu begreifen, dass wir einerseits nicht frei sind, alles zu entscheiden – was es letztlich erst ermöglicht, überhaupt ausgebildet zu werden – und dass wir Standards erfüllen müssen. Dass aber andererseits noch ein großer Raum bleibt, selbständig kreativ tätig zu sein, und dass Wissenschaft als eine Unternehmung, die sich über beständiges Fortschreiten definiert, das zwingend erfordert. Die angesprochenen Standards legen fest, was Wissenschaft ist und was nicht. Beispielsweise ist eine meditative Versenkung in einen Forschungsgegenstand kein wissenschaftliches Verfahren und würde nicht akzeptiert werden. Das heißt aber nicht, dass das, was Wissenschaft ist, eineindeutig festliegen würde. Es gibt immer mehrere Wege. Das kann ein Nachteil sein, wenn man nicht weiß, was man tun soll – und lässt einen häufig gerade im Studium mit dem Gefühl allein, irgendetwas falsch zu machen oder meist unausgesprochenen Anforderungen nicht hinreichend genügen zu können. Andererseits setzt aber dies erst Kreativität frei und lässt einen Spielraum für eigene Interpretationen – wenn diese auch immer an methodische Verfahren gebunden sein müssen, um Wissenschaft zu bleiben. Die Analyse der Arbeitssituation, wie sie hier vorgeschlagen wird, ist selbst nur eine Möglichkeit, diesen Arbeitsprozess zu analysieren. Ihr Ziel ist es, den Erkenntnisprozess so transparent und einfach zu formulieren, dass im oder in der oder dem Einzelnen während der Ausbildung ein Gefühl von Sicherheit entsteht. Es soll aber auch aufzeigen, dass wissenschaftliche Ausbildung nicht nur darin besteht, vorhandene Arbeitsweisen und Erkenntnisse zu erlernen, sondern im Wesentlichen auch darin, auf auftretende Probleme im Erkenntnisprozess mit der Fähigkeit zu reagieren, neue Lösungsstrategien zu entwickeln und diese erfolgversprechend anzuwenden. In den Ausführungen zur Einführung in wissenschaftliches Arbeiten und das theoretische Reflektieren verfolge ich hier eine spezifische Strategie, die ihrerseits kritisierbar und fehlbar ist. Sie geht von einem relativ großen Freiraum des Erkenntnissubjekts aus und sieht im Erkenntnisprozess einen permanenten Dialog zwischen diesem und dem Forschungsthema. Sie basiert auf einem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus, der die Abhängigkeit der Konstitution des Erkenntnisobjekts vom methodischen Zugriff formuliert – ähnlich wie Heisenberg für die Naturwissenschaften gesagt hat, die Flugbahn eines Atoms entsteht erst, wenn wir sie beschreiben.

Für die Frage, wer das Subjekt des Forschungsprozesses ist, bringt diese Auffassung eine zunächst ungewöhnlich erscheinende Antwort zu Tage: zwar bin ich jeweils als Person mit meiner Lebenszeit, meiner Sensibilität, meinen Fähigkeiten es, der eine Forschungsarbeit vollbringt. Um wissenschaftlich akzeptabel zu verfahren, muss aber diese Subjektivität (man kann hier besser von Subjekthaftigkeit sprechen, um bestimmte Konnotationen einzugrenzen) transformiert werden. Zwar entscheide ich mich für einen Ansatz, für einen Weg, für bestimmte Methoden usw., aber ich muss, um Erkenntnis zu produzieren, die auch für andere nützlich ist und an die diese anschließen können, diese nicht nur für mich selbst formulieren, sondern für alle diejenigen, die den Weg, den ich gehe, ebenfalls gehen würden oder diesen für einen möglichen und damit akzeptablen halten. Ich muss also ein Erkenntnissubjekt formulieren, das mehr ist, als ich selbst – und doch keine reine Objektivität, denn im Verlauf des Forschungsvorhabens müssen eine große Anzahl von Entscheidungen getroffen werden, für die es gute Gründe zu finden gilt, die aber immer auch anders getroffen werden könnten – und meist auch mit guten Gründen, beispielsweise bei der Wahl der Methoden, des Kontextes oder, des Quellenkorpus. Die Arbeit hat mithin ein Erkenntnissubjekt, aber dieses bin nicht nur ich, auch nicht eine genau benennbare Gruppe – sondern eine Fiktion, die alle umfasst, die das Forschungsdesign als mögliche Strategie akzeptieren. Das Erkenntnissubjekt ist mithin ein virtuelles Subjekt – und das bedeutet in der Forschungspraxis, dass ich, um erfolgreich zu sein und akzeptiert zu werden, genau entscheiden muss, welchen Grad an Argumentationsrationalität mein jeweiliges Forschungsvorhaben benötigt, um nicht einerseits unkritisch einen allgemeingültigen Wahrheitsanspruch meiner Ergebnisse zu reklamieren (und damit in eine Ideologisierungsfalle zu tappen), aber andererseits auch nicht zu subjektiv zu werden und damit das notwendige Maß wissenschaftlicher Rationalität, Überprüfbarkeit und Übertragbarkeit zu verpassen.

Stefan Haas