Die leitende Fragestellung

Wenn Forschungsthema und Forschungsgegenstand bestimmt sind, kann man eine leitende Fragestellung formulieren. Diese ist deswegen leitend, weil sie nicht eine einfache Frage ist („Wann begann der Erste Weltkrieg?“ oder „Ist das Gedicht x von y ein Sonett oder nicht?“), sondern weil sie das Erkenntnissubjekt bei seinem Weg durch das Chaos der Welt der Quellen leitet und nachvollziehbar entscheidet, was relevant und was irrelevant ist. Man braucht eine solche Leitung, weil die Welt von sich aus ungeordnet ist – zumindest glaubt das eine große Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen seit der Aufklärung. Es gibt keine vorgängige Ordnung, so wie dies die verschiedenen Religionen annehmen, sondern Ordnung kommt erst in die Welt, indem wir Quellen analysieren und Kontexte bilden. Ordnung der Geschichte entsteht durch eine Interpretation der Geschichte. In diesem Sinn wird Geschichte konstituiert, indem Material in einer spezifischen Weise als Geschichte geschrieben wird. Die leitende Fragestellung leistet auf dem Weg der Erkenntnisproduktion die Nachvollziehbarkeit von Relevanzentscheidungen. Sie ist deswegen besonders wichtig beispielsweise bei Finanzanträgen für Stipendien, bei Projektanträgen o.ä. Die leitende Fragestellung beinhaltet das Forschungsthema, weniger den Forschungsgegenstand, gibt einen ersten Hinweis auf die eingesetzten Methoden und Theorien und enthält eine These oder deutet diese an, damit der Zuhörer und Leser bereits sieht, in welche Richtung es geht. Ein Beispiel wäre:

„Welche Rolle spielen Faktoren der Einheit eines Ehehaushalts als soziale wie ökonomische Gesamtheit für die dauerhafte Konstituierung von heterosexuellen Beziehungen im Übergang von vormodernen, vorindustriellen Lebensverhältnissen zur Epoche der Industrialisierung und Verbürgerlichung?“

Eine analoge Frage, die die Funktionen einer leitenden Fragestellung nicht wahrzunehmen vermag, wäre:

„Wie lebten Paare um 1800 zusammen?“

Die zweite Frage klingt zwar sehr einfach und leicht verständlich und man könnte der Meinung sein, dass die erste nur ein typisches Beispiel für die unnötige Komplexität von Wissenschaft ist – aber, wenn man sich vorstellt, man müsste mit der zweiten Frage ausgerüstet anfangen zu arbeiten, weiß man dann, wo man anfangen soll? Diese Frage leitet nichts an. Die erste Frage hingegen enthält Begriffe, die bereits eine Entscheidung für einen bestimmten theoretischen Kontext beinhalten. Sie lässt eine genauere Konstituierung des Quellenkorpus zu und mit dieser Frage im Hinterkopf kann man bei der Lektüre der Quellen leicht entscheiden, ob diese Quelle nützlich ist oder nicht. Die zweite Frage ist so einfach, und damit auch so umfassend, dass man wohl recht lange arbeiten müsste, um sie zu beantworten.

Stefan Haas