Theorien/Diskurse/Paradigmen/Sprachspiele - Wissenschaftstheoretischer Konstruktivismus

Alle bisher dargestellten Ansätze zum Erkenntnissubjekt (Individuum, Gruppe, Scientific Commnity) stellen letztlich Menschen in den Mittelpunkt. Es ist aber auch möglich, abstraktere Gedankengebilde als Träger von Erkenntnisleistungen herauszuarbeiten. Negativ geschieht dies in den ideologiekritischen Ansätzen, beispielsweise wenn ehemals als ‚bürgerlich’ qualifizierte Wissenschaftler den Marxismus als verantwortlich für eine bestimmte Aussage herausstellten (oder umgekehrt marxistische das Bürgerliche für verantwortlich machten für eine bestimmte historische Interpretation in einem Buch oder einem Aufsatz). In solchen Fällen wird ein Gedankengebäude verantwortlich gemacht, das als Brille identifiziert wird, wodurch ein Phänomen nur auf diese Weise in den Blick kommt. Gemeint ist dann, dass wer die Brille bewusst macht, auch merkt, dass diese einen freien Blick verstellt.

Nun ist das mit dem freien Blick ein Problem und deswegen kann man diesen Ansatz auch positiv wenden. Grundlage solcher Ansätze, wenn sie positiv formuliert sind, ist ein erkenntnistheoretischer Konstruktivismus, d.h., wir Menschen machen uns unsere Welt selbst, in der Regel durch unsere Sprache. Unsere Sprache trennt wichtig von unwichtig, lenkt unsere Aufmerksamkeit, scheidet aus der Vielfalt der Eindrücke das heraus, was unsere Lebenswelt ausmacht. Nun wird in der Regel nicht die Sprache in jenem Zustand, wie sie beispielsweise ein grammatisches Lehrbuch formuliert, für diesen Konstruktionsprozess verantwortlich gemacht. Vielmehr geht es um eine spezifische Ordnung, die durch unseren Gebrauch der Sprache konstituiert wird.

Bei Ludwig Wittgenstein heißt dies beispielsweise Sprachspiel. Damit ist gemeint, dass eine spezifische Sprachverwendung Regeln aufstellt, nach denen ein Sprachgebrauch und damit das Spiel funktioniert. Der Begriff Spiel verweist dabei auch auf die Tatsache, dass es mehr als eine Möglichkeit gibt, solche Regeln zu konstruieren, wie es auch verschiedene Spiele gibt, die wir spielen können, aber eben nur spielen können, wenn wir die jeweiligen Regeln beachten. Wittgenstein ist darüber hinaus der Meinung, dass es keinen regelneutralen Gebrauch von Sprache gibt, also nichts außerhalb eines Spiels und auch kein Metaspiel. Lyotard hat in seiner Philosophie viel von dieser Wittgensteinschen Auffassung übernommen.

Ähnlich, aber doch mit ganz anderen Grundlagen funktionieren auch Erkenntnistheorien, die mit dem Begriff des Diskurses arbeiten. Bei Foucault meint dies ein Sprachgeschehen, dessen Regel nicht dem Gebrauch vorausgeht, sondern erst nachträglich erkennbar wird. Ein Satz geschieht, ein weiterer muss folgen, der erste bestimmt fast nie, wie der zweite aussehen muß, aber er schränkt die Möglichkeiten ein. Damit ist das, was geschieht, nie vorauszusehen und auch nicht unserer Kontrolle unterworfen. Es entsteht durch das relativ zufällige Weitersprechen. Das heißt nicht, dass wir sagen können, was wir wollen und dass es egal ist, was wir sagen, vielmehr sind wir bereits in einem Diskurs und dieser begrenzt, ohne dass wir uns dessen bewusst sein, was wir in einer bestimmten Situation, bsp. als Historiker oder Historikerin auf einem Kongress sagen und wie wir es sagen. Daher kann man auch formulieren, dass der Diskurs sich selbst erzeugt.

Nur für die Naturwissenschaften konzipiert und später von anderen auf die Geisteswissenschaften übertragen ist das Kuhnsche Paradigmenmodell. Ein Paradigma ist eine Art Grundannahme, besser aber ein „Beispiel“, so auch die wörtliche Übersetzung des Begriffs ‚Paradigma’, wie man Probleme lösen kann. In der Wissenschaft funktioniert alles lange Zeit blendend, bis immer mehr Dinge geschehen oder in den Blick geraten, die man nicht erklären kann. Dann hört die „Normalphase“ der Wissenschaft auf und man beginnt, mit neuen Lösungsansätzen zu experimentieren. Irgendwann findet jemand einen Lösungsweg, der von der scientific community akzeptiert wird, weil er eine überzeugende Lösung verspricht - ein gewisses irrationales Element ist in diesen Ansatz also durchaus eingebaut, denn wann hält man eine Lösung für überzeugend? Dieses Vorgehen wird dann auf andere offene Probleme übertragen, diese werden gelöst und man geht von der Phase der Krise wieder in jene der Normalität über. Kuhn spricht beispielsweise bei der Relativitätstheorie und der Quantenphysik von einem Paradigmenwechsel von der Newtonschen zur Einsteinschen Physik. Kuhn selbst hat den Begriff nicht homogen verwendet. Mal meint er Lösungsbeispiel, mal Axiom, mal Grundidee. Entsprechend vielfältig sind auch die Verwendungsformen in der Literatur.

Alle diese Ansätze beschreiben das Erkenntnissubjekt nicht als ein personales Subjekt, sondern als ein theoretisches Konstrukt. In diesem sind spezifische Verfahren der Erkenntnisgenerierung ebenso präfiguriert wie die Unterscheidung von relevanten und irrelevanten Themen, von akzeptierten und nicht akzeptierten methodischen Verfahren, von Vorstellungen, was richtig und was falsch ist. Der einzelne Wissenschaftler oder die einzelne Wissenschaftlerin bewegen sich im Rahmen eines solchen theoretischen Konstruktes. In diesem elektronischen Wissenssystem wird dies als Theorie bezeichnet. D.h. jede einzelne Arbeit ordnet sich selbst, ob bewusst oder unbewusst, in der Konstellation von möglichen theoretischen Zugriffsweisen auf Geschichte, Gesellschaft, Kultur oder was auch immer der Gegenstand ist, ein. Ziel ist es, diesen reflektieren zu können, angeben zu können, welche theoretischen Vorannahmen der eingeschlagene Lösungsweg macht oder welche er voraussetzt. Wenn man es selbst nicht tut, können dies meist andere, und man selbst erscheint naiv oder unreflektiert.

Für die alltägliche Arbeit bedeutet dies, dass man nicht schreibt, was man will, sondern sich von einem solchen theoretischen Konstrukt (an)leiten und helfen lässt. Auch wenn man sich selbst als Autor oder Autorin einer Arbeit begreift, ist man niemals so souverän, dass man alles, jede Sprachwendung, jede Zielvorgabe, jede Methode selbst neu erfindet. Diese Einbettung ist unumgänglich, auch wenn sie uns nicht gänzlich determiniert und eine hohes Maß an innovativem Entwicklungspotential offen lässt. Jenseits des Erlebens von mir selbst als demjenigen, der die wissenschaftliche Arbeit durchführt, sind noch jede Menge anderer Personen und Faktoren beteiligt. Ich selbst bin die spezifische Konstellation all dieser Faktoren und scheide auch große Teil meiner Persönlichkeit aus dem Erkenntnisprozess aus, beispielsweise persönliche aktuelle Trauer über einen Verlust oder Ängste vor einer möglichen Ablehnung der eigenen Arbeit. Dadurch konstruieren wir eine Stelle im Erkenntnisprozess, die wir einnehmen, in der wir aber nicht ganz aufgehen wollen, und auch nicht sollen. Letztlich ist das jeweilige Ich wir im Erkenntnisprozess ein virtuelles Subjekt, das all die genannten Faktoren vereinigt.

Stefan Haas