Wissenschaft als Diskurs

Dem Ansatz der ‚disziplinären Matrix’ in einigen Punkten ähnlich sind die in der Wissenschaftsgeschichte der letzten zehn Jahre dominierenden diskurstheoretischen Ansätze. Ihr Angelpunkt ist das Werk des französischen Philosophen Michel Foucault. Es gibt aber eine Reihe alternativer Diskurstheorien, die sich teilweise stark von der Foucaultschen unterscheiden. Hier soll aber stellvertretend die Foucaultsche vorgestellt werden.

Die Diskurstheorie orientiert sich stark an der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. Für sie ist Wissenschaft - oder Denken, Empfinden und Leben allgemein - Sprache. Daher ist alles den Gesetzen und Regelmäßigkeiten der Sprache unterworfen. Foucault übernimmt aus der Wittgensteinschen Sprachtheorie den Gedanken, dass alles was gedacht werden kann, mithin alles, was es für uns Menschen gibt, sprachlich verfasst ist. Diese Sprache ist nun aber keine, die wir letztlich beherrschen, deren Grammatik wir herausarbeiten können, vielmehr gibt sie unserer Lebenswelt ihre Logik vor. Wie die Sprache funktioniert, so auch unser Denken und unsere Welt. Es gibt also kein intentional, d.h. mit Absicht handelndes Subjekt mehr, das eine bestimmte Aussage treffen will und dies dann auch dergestalt tun kann, dass ein Zuhörer es versteht. Vielmehr sind wir immer schon in Sprache verwickelt und existieren an einem bestimmten Punkt, der den Satz, den wir sagen wollen, präfiguriert. Alles vorher Gesagte bestimmt, was wir nun sagen können, und jeder Satz, den wir sagen, beschränkt die Möglichkeit, was wir danach sagen können. Der Diskurs determiniert mithin nicht, was wir sagen müssen. Aber er ist insofern an dem beteiligt, was gesagt wird, als dieses Gesagte auf das vorher Gesagte folgt und an dieses anschließt – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weisen. Das was gesagt wird, ist mithin kontingent, d.h. es ist nachvollziehbar, warum es so geschah, es ist nicht zufällig, es hätte aber auch etwas anderes gesagt werden können, es ist also auch nicht determiniert. Da wir nicht die Herrschaft über die Sprache haben, bringt diese in jeden von uns ausgedrückten Satz etwas ein, was wir nicht intendiert haben, was aber seinerseits Wirkung hat - und sei es nur dadurch, dass wir bestimmtes nicht sagen und das Ungesagte dergestalt das nun folgende in seiner Entfaltung mitbestimmt.

Dies hierbei entstehende Geflecht, an dem es kaum feste Zentralpunkte gibt etwa in Gestalt von Kategorien oder Paradigmen, ist der Diskurs. Durch den Überschuss in der Sprache, kann man sagen, dass sich der Diskurs in gewisser Weise selbst fortschreibt. Wir sind nur die Knoten des diskursiven Netzes, die den Diskurs in seiner Bahn etwas bewegen, aber uns steht es kaum zu, das Ende dieser Bahn zu bestimmen. Erst im Nachhinein kann der Historiker/die Historikern erkennen, welche Punkte in einem Diskurs sich dergestalt verdichtet haben, dass sie ihm ein gewisses Gepräge gegeben haben.

Für die Wissenschaftstheorie bedeutet dies, dass die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Verlauf der Geschichte zwar eine bestimmte Absicht mit ihren Texten verfolgt haben können, dass es aber keine Sicherheit gibt, dass diese auch tatsächlich umgesetzt wird. Der Text wird vielleicht ganz anders verstanden, er regt etwas an, mit dem wir nicht gerechnet haben, zwischen den Zeilen verstecken sich Denkmöglichkeiten (was bedeutet, Möglichkeiten, etwas sprachlich zu sagen), an die die Autoren nicht dachten. Arbeitet man mittels der Diskurstheorie zur Wissenschaftsgeschichte geht es um wie: wie sich in einer Fülle von Werken zu einem bestimmten Zeitpunkt thematische aber auch institutionelle Knoten verfestigt haben und warum dies geschehen ist? Es geht also nicht darum, ein Werk einer Epoche zu einem repräsentativen zu erheben und an diesem die Strukturen des wissenschaftlichen (oder anders gearteten) Denkens dieser Zeit herauszuarbeiten. Vielmehr sind Bücher wie alle Sorten von Texten nur kurzfristige Knoten, an die selbst wiederum angeschlossen werden kann, indem sich Elemente in weiteren Texten finden, die dort aber mit Elementen anderer Text neu gruppiert werden. Diskursanalyse untersucht nun einerseits die Verdichtung spezifischer Begrifflichkeiten, was man methodisch auch mittels quantitativer Verfahren erarbeiten kann. Mithin die Frage, welche Begriffe kommen besonders oft vor? Andererseits die Art und Weise wie diese Begriffe und Begriffskombinationen eingesetzt werden, in welchen textlichen Kontexten sie auftauchen und wie sie mit anderen Elementen des Diskurses verbunden sind. Dabei geht es nicht nur darum, herauszuarbeiten, welche Begriffe besonders oft oder besonders prägend für einen bestimmten Diskurs sind, sondern auch darum, was überhaupt in diesem Diskurs hat gesagt werden können. Da der Diskurs nicht festgelegt ist, um einen bestimmten Begriff zu kreisen, sondern sich durch begriffliche Neukombinationen ständig entwickelt, geht es um Begriffsvarianzen. Die zentrale Frage ist nun, welcher Spielraum an Varianz ist in einem bestimmten Diskurs möglich. Das lässt sich kaum beantworten, wenn man selbst in dem zu untersuchenden Diskurs verstrickt ist, da man nicht weiß, was im nächsten Moment noch geschehen kann. Aber historisch lässt sich durchaus untersuchen, was ein bestimmter Diskurs an Varianten entfaltete, und wo seine Grenzen lagen. Gerade deshalb interessiert sich die Diskursanalyse nicht nur für das ‚Gesagte’, sondern besonders für das ‚Sagbare’, was verdeutlicht, dass es ihr um eine Herausarbeitung und Interpretation des diskursiven Feldes geht. Insofern wird auch verstehbar, dass sich Diskursanalyse nicht mit Identitäten beschäftigt, also mit dem immer gleichen Kern eines zentralen Begriffs in einem Diskurs – etwa die Frage, was ist Vernunft in der Philosophie der Aufklärung? Die Frage lautet vielmehr, was kann Vernunft im Diskurs der Aufklärung heißen, und was nicht?

Was bedeutet es nun, wenn man der Auffassung ist, Wissenschaft sei ein Diskurs und wir mithin Teil dieses Diskurses. Wissenschaft als Diskurs aufzufassen hat etwas Anarchisches, man kann Regeln versuchen zu entwickeln, weis aber, dass diese niemals voll einzuhalten sind. Wer diskurstheoretisch denkt, ist nicht bestrebt, feste Wahrheiten zu finden, sondern sich darauf einzulassen, dass es immer Neues zu entdecken gibt, an das man vorher noch nicht dachte und dass man dergestalt das Quantum des Sagbaren ständig verändert, vielleicht auch vergrößert. Diskurstheoretisch zu operieren heißt mithin für die Wissenschaften auch, nicht etwas abschließend zu erforschen und zu formulieren, sondern Möglichkeiten zu eröffnen, das Gesagte in einer Weise weiterzuentwickeln, die nicht determiniert und vom Autor oder der Autorin eines Textes nicht beherrscht werden kann.

Stefan Haas

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